Doris Knecht: Die Nachricht, Carl Hanser Verlag Berlin, Berlin 2021, 254 Seiten, €22,00, 978-3-446-27103-6
„Waren doch nur Wörter. Wir haben doch alle mal einen schlechten Tag. Wollen wir wirklich jeden, der mal verbal danebengegriffen hat, vor den Richter zerren? Und er wurde ja auch provoziert, oder nicht? Es ist dieses Social Media, das uns dazu verleitet, und wer sich davon überfordert fühlt, muss da halt raus. Das muss man aushalten können, wenn man da mitmachen will. Das muss man aushalten, wenn man eine Frau ist.“
Nichts ist mehr privat, unser Leben findet, wenn wir uns wirklich Facebook, Instagram und Twitter zuwenden, in aller Öffentlichkeit statt. Es scheint so, als würde man einfach nicht mehr existieren, wenn man nicht in den sozialen Netzwerken präsent ist. Ja, gut, da gibt es Trolle oder auch wirklich durchgeknallte Menschen, die ihren Frust und ihre Wut auf wen auch immer, anonym versteht sich,
abreagieren. Es ist fast unmöglich, sie aufzuspüren. Gibt man klein bei und löscht seine Accounts oder hält man den psychischen Druck aus, wenn ein Stalker auf perfideste Weise in einer unerträglichen Fäkaliensprache intimste Details in den Dreck zieht und auch noch Freunde, Familie und Kollegen informiert?
Ruth Ziegler ist keine Frau, die immer präsent in der Öffentlichkeit steht. Kurzzeitig hat sie ein Kunstmagazin im Fernsehen moderiert, aber nun schreibt sie Drehbücher und kann offenbar gut davon leben. Vor drei Jahren ist ihr Mann Ludwig durch einen Skiunfall ums Leben gekommen. Benni, beider fünfzehnjähriger Sohn, musste alles mit ansehen. Ruth war zu diesem Zeitpunkt angeblich auf einer Dienstreise in Köln, in Wahrheit aber allein in Wien, um nachzudenken. Seit langem will sie sich von ihrem Mann Ludwig trennen, ohne zu ahnen, dass dieser bereits eine Geliebte namens Valerie hat.
Doris Knecht erzählt aus der Ich-Perspektive von einer selbstbewussten Frau, deren privates wie berufliches Leben durch anonyme, vulgäre wie beleidigende Nachrichten in die Schieflage gerät. Nichts bleibt ihrem Umfeld verborgen, denn die herabwürdigenden, manipulativen Nachrichten erscheinen auf allen Smartphones ihrer Freunde und auch bei beruflichen Kontakten.
Im Zeitraum eines guten halben Jahres umkreist die österreichische Autorin nun die unterschiedlichen Reaktionen auf Ruths ganz persönliche Krise. Wem kann sie noch vertrauen? Sie vermutet, dass die Geliebte ihres Mannes hinter dieser miesen Aktion steckt. Ruth spricht sehr oft mit ihrer Freundin Johanna über all ihre Probleme. Als sie Simon Brunner, einen anerkannten Schweizer Kinderpsychologen kennenlernt, hofft sie in ihm einen ebenbürtigen Partner gefunden zu haben. Bei ihm war ihr Sohn Benni in Therapie, nachdem er zu einem Kollegen wechselte.
Ruth lebt in der Nähe von Wien, in einem selbstgebauten Holzhaus mit großem Garten. Überall werden Protzvillen gebaut und sogar Ludwigs missgünstiger Bruder würde ihr gern Grund und Boden abluchsen.
Mit den toxischen Nachrichten stellen sich immer mehr Verunsicherungen ein. Ruth fühlt sich beim Joggen im Wald nicht wohl, weiß nicht mehr, ob sie ihr Haus abgeschlossen hat. Die Beziehung zu Simon wird zur On – und Off – Beziehung. Auch wenn Ruth ihren Freiraum benötigt, so spürt sie doch bei Simon keine Ernsthaftigkeit. Sie ahnt, dass er auch andere Frauen trifft und sie weiß, dass er ganz bewusst lügt. Immer wieder beendet Ruth die Beziehung, nimmt sie dann aber durch die Nachrichten wieder auf, um auf Simons Rat als Psychologen zu hören.
Erhält Ruth diese Mails, weil sie als Witwe nicht demütig genug ist und man ihr einen schlechten Lebenswandel bescheinigen muss, wie es ihr ehemaliger Kollege Sebastian behauptet?
Schreibt sie sich diese Mails vielleicht sogar selber, weil sie….Ja, warum eigentlich?
Immer abstruser werden die Erklärungen der Freunde und immer unwilliger die Gespräche darüber.
Doris Knecht legt den Finger genau in die Wunde der sozialen Medien und der öffentlichen Selbstdarstellung, die bei manchen Menschen offenbar das Übelste nach oben spülten. Und es geht um die unkonventionelle Lebensart von Frauen, die vielleicht noch nie so frei waren wie jetzt. Ruth geht mit Freunden oder auch allein in Cafés oder Bars, verdient ihr eigenes Geld und lebt so, wie sie möchte.
Beim Lesen bangt man mit Ruth mit, versteht all ihre Stimmungslagen und kann doch nicht begreifen, wieso jemand offenbar teuflische Freude daran hat, den anderen so zu demütigen.
„Angst zu verbreiten, ist ein gutes Mittel, um Macht über jemanden zu bekommen“, sagt Doris Knecht in einem Interview. Ihre Hauptfigur lässt sich nicht unterkriegen und verliert doch am Ende auf ganzer Strecke.