Nina Lykke: Alles wird gut, Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall und Ina Kronenberger, btb Verlag, München 2021, 347 Seiten, €20,00, 978-3-442-75934-7
„Alle Familien, mit denen ich zu tun hatte, die Familien von Freunden, von Patienten, von Kollegen, sind mehr oder weniger ein Hort von altem Groll, Missverständnissen, Zwistigkeiten, Zerwürfnissen und Streit. Man muss nur mal genau hinsehen.“
Elin ist mittlerweile Mitte 50 und arbeitet als Hausärztin in einer Gemeinschaftspraxis. Die beiden untadeligen Töchter sind aus dem Haus und Ehemann Aksel hat sich aufs Laufen kapriziert, Skilaufen, Rollskilaufen und am liebsten bei Rennen im Ausland. Die beiden haben ein gut ausgebautes Haus in einer jetzt hippen Gegend in Oslo und leben nebeneinander her.
Zwar kann Elin mit ihrem Ehemann Aksel noch reden, doch seine permanente Abwesenheit, sein Egoismus und seine Passivität, was den Haushalt oder die Kontakte zu Freunden anging, führt bei Elin ebenfalls zu Gleichgültigkeit. Dabei raffte sie sich immer noch zu gemeinsamen Aktivitäten mit Freunden aus einem seltsamen Pflichtgefühl bis zu dem Moment auf, wo sie bemerkt, dass die anderen sich kaum darum kümmern, was sie eigentlich denkt oder möchte.
Als Ich-Erzählerin berichtet Elin von ihrer Arbeit, ihrem Ehedilemma, denn sie wohnt nun schon drei Wochen in der Praxis, und dem neuen Liebhaber Bjørn und seinem Ehedrama.
Eine innere Stimme, Elin nennt sie Tore, scheint wie ein Widerspruchsgeist sie immer auf den Boden der Realitäten zurückzuholen. Elin neigt zu sehr ironisch-sarkastischen Überspitzungen, die einfach nur ehrlich sind, wenn sie ihre Umwelt und ihre Patienten genauer unter die Lupe nimmt.
Richtig kritisch wird sie, ohne irgendetwas wirklich ändern zu wollen, wenn sie über sich selbst spricht. Elin hat es sich nach einem langen nervigen Arbeitstag zur Gewohnheit gemacht, am Abend auf dem Sofa zu liegen, ellenlange Serien zu konsumieren und dabei Weißwein aus dem Karton zu trinken. Warum sie diesen billigen Fusel bevorzugt, ist nicht klar. Der Kater am nächsten Morgen wird zur Gewohnheit.
Dabei rät sie ihren Patienten doch immer, viel Wasser zu trinken und sich gesund zu ernähren.
Alle anfängliche Begeisterung für den Beruf der Allgemeinmedizinerin hat sich gelegt, denn Elin hört ihren Patienten, ihr „aufgeblasenes Selbstvertrauen“ nach Recherchen im Internet und Eigendiagnosen, zwar zu, schaut aber doch mit Distanz und manchmal auch Abscheu auf ihre Probleme. Diese kulminieren in einer Wohlstandsgesellschaft wie Norwegen in Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Übergewicht oder Depressionen. Wenn eine junge verwöhnte Erwachsene zum Arzt geht, weil sie jedes Jahr mit ihren wohlhabenden Eltern nach Nizza fährt und sich dem nicht entziehen kann, dann stimmt irgendetwas nicht. Elin erlebt Väter, die auf die Tricks ihrer vierjährigen Töchter reinfallen, die offenbar nicht wirklich krank sind, sondern nur zu dick, weil sie immer ihren Willen bekommen oder mit Süßigkeiten ruhig gestellt werden. Es ist eine Gesellschaft, die, und hier kann man wirklich verallgemeinern, ihr Leben nach außen, z.B. auf Instagram sehr positiv und glücklich präsentiert, aber im Inneren völlig kaputt ist.
„Der Flur draußen ist voller Konsumenten und Verbraucher, die auf ihre Dosis Service, Qualität und Empathie wartet, denn die Bevölkerung wird immer fragiler und empfindlicher und dabei immer frecher und anspruchsvoller.“
Als Elin aus Unkenntnis bei Facebook auf den Button ihres Ex-Freundes Bjørns drückt und so mit ihm nach dreißig Jahren wieder in Kontakt kommt, ploppen alle Erinnerungen an die Studienzeit wieder auf. Unglücklich mit ihrem Trinken sucht Elin eine andere Leidenschaft, ob die allerdings ein Verhältnis mit Bjørn, der immerhin vier erwachsene Kinder, ein sehr großes Haus und eine Ehefrau hat, sein muss, ist fraglich. Auch er ist in seiner Ehe nicht glücklich und scheint wirklich von Elin, seiner ersten großen Liebe, nie wirklich losgekommen zu sein. Bjørns Frau Linda ist ein hysterischer Kontrollfreak, der auf Insta sich ein harmonisches Leben zusammenträumt. Ihr Ehemann scheint sich vor ihren Wutattacken zu fürchten und der Auseinandersetzung permanent aus dem Weg zu gehen. Sie droht pausenlos mit Scheidung und er duckt sich weg.
Elin, die sich von ihrem Helfersyndrom einnehmen lässt, trifft sich nun mit Bjørn in der Wohnung der Mutter, die dement in einem Pflegeheim leben muss. Doch irgendwann, Elin sendet ohne die Brille aufzusetzen, eine schlüpfrige SMS an Aksel, die eigentlich für Bjørn gedacht war, fliegt alles auf.
Nach dem Motto ihrer Mutter „Alles wird gut“, zieht Elin von ihrem Lebensumfeld ein trauriges wie realistisches Resümee: Alle benutzen sie als emotionale „Wärmstube“. Doch was wird aus ihrem Leben?
Sehr lesenswert!