J. Courtney Sullivan: Fremde Freundin, Aus dem Englischen von Andrea O’Brien und Jan Schönherr, Paul Zsolnay Verlag, München 2021, 528 Seiten, €24,00, 978-3-552-07251-0
„Sam war baff. Das bisher unbekannte Puzzlestück ließ Elisabeth in einem ganz anderen Licht erscheinen. Sie war ganz anders aufgestellt, als sie vorgab. Und Sam hatte die Lüge die ganze Zeit als Beweis dafür aufgefasst, dass jeder es schaffen konnte, seinen künstlerischen Ambitionen nachzugehen und trotzdem irgendwann ein schönes Haus und ein perfektes Kind zu haben.“
Elisabeth Ronson hatte gute zwölf Jahre bei der TIMES gearbeitet, ehe sie nach Sparmaßnahmen entlassen, niemand spricht davon, mit Erfolg Sachbücher veröffentlichte. Da ihr Mann Andrew für seine anstehende Erfindung eine Stelle an einer Universität gut 400 km entfernt von Brooklyn ergattern konnte, entschließen sich die Ronsons zum Umzug in ein ansehnliches Haus mit Garten. Immerhin gibt ja auch noch Gilbert, beider Baby das Elisabeths Leben ziemlich durcheinandergewirbelt hat. Unweit der neuen Wohnstätte leben auch noch Andrews Eltern, die sich allerdings kaum bei der Enkelbetreuung einbringen. Elisabeths Eltern haben Gilbert dagegen noch nie gesehen. Elisabeths Kindheit mit Schwester Charlotte war von der unglücklichen Ehe der Eltern, ihren Scheidungen und Versöhnungen geprägt. Alle Defizite kleistert Elisabeths Vater mit Unmengen von Geld zu. Um sich davon freizumachen, hat Elisabeth ihr Studium selbst finanziert. Dass Elisabeth in der Provinz gelandet ist, bezeugt ihr erster Besuch in einem Buchclub, zu dem die Nachbarinnen sie eingeladen haben. Wird über das von allen wohl kaum gelesene Buch ein paar Minuten auf niedrigstem Niveau debattiert, so füllt die verbleibende Zeit Klatsch und Tratsch.
In der Einsamkeit des Hauses und Ortes sehnt sich die nicht mehr ganz so junge Mutter, ihre Freundin lebt weiterhin in New York, nach einer Freundin. Als sie die mittellose Kunststudentin Sam, die gut zwanzig Jahre jünger als Elisabeth ist, in ihr und Gils Leben lässt, beginnt eine langsame Annäherung der beiden unterschiedlichen, sich „fremd“ bleibenden Freundinnen.
So wie Elisabeth Sams Talent zum Zeichnen bewundert, so staunt Sam über den erlesenen Geschmack und die teure wie elegante Einrichtung des Hauses.
Wie wohl jede gut betuchte Amerikanerin sucht Elisabeth ihre Therapeutin auf und verbringt viel zu viel Zeit im Internet, in der Gruppe BK Mamas. Durch Sams Dienste kann sie ein kleines Büro mieten, um endlich an ihrem vertraglich eingeforderten dritten Sachbuch zu schreiben.
Sind die einen finanziell abgesichert, so kämpfen die anderen um ihren Status in der Gesellschaft.
In diesem Roman um Freundschaft und vor allem Geld erzählt jeder immer nur die halbe Wahrheit. So leiht Elisabeth ihrer Schwester Charlotte, die irgendwo in der Karibik ihre Fotos für Instagram postet, einen Haufen Geld, damit sie dieses nicht beim Vater borgen muss. In stummer Annahme, dass der Schwesternbund gegen den Vater hält, verschweigt Charlotte Elisabeth, dass der Vater ihr gesamtes oberflächliches Leben sponsert. Der Hohn ist, dass sie zu ihren körperbetonten Fotos auch noch dumm-dämliche Weisheiten beisteuert. Die Geldreserve der Ronsons, so hoffte Andrew, sollte eigentlich seinen Eltern zugute kommen, die demnächst ihr Haus verkaufen müssen. George, Andrews Vater musste seine kleines Fahrunternehmen aufgeben und nun bei Uber als Fahrer arbeiten. Die Idee, dass man durch Bildung und Arbeit aufsteigen könnte, erledigt sich bei vielen Figuren dieses Seiten starken Romans relativ schnell. Mag Sam noch so naiv sein und nicht erkennen, woher eigentlich Elisabeth Selbstbewusstsein und innere Ruhe stammt, so strampelt sich ihre eigene Familie ab und erwartet noch von der Tochter Unterstützung. Aus der Klassenzugehörigkeit auszubrechen, bleibt ein fast unmögliches Unterfangen.
In vielen kleinen Szenen, die manchmal tragikomisch die Familie, aber auch das große Ganze beschreibt, spiegelt sich das gesellschaftliche Bewusstsein der USA. So bestellt man eben bei Amazon, obwohl man das nie vor seinen Freunden zugeben würde. So belächelt man den Schwiegervater, der doch etwas obsessiv erkannte hat, dass die USA nicht mehr das einflussreichste Land ist. Seine sezierende Gesellschaftskritik trifft auf die Zeit vor Donald Trump zu und erklärt vielleicht die Unzufriedenheit unter Obama.
Soziale, wie finanzielle Sicherheit, aber auch Schuldenlast durch Bildung, eine schlechte Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung und den Zukunftsglauben der Amerikaner thematisiert die amerikanische Autorin in diesem sehr gut lesbaren Roman. Mag ein Riss im Haus von Elisabeth versteckt sein, den sie erst spät entdeckt, so zieht sich dieser durch die Gesellschaft. Auffällig bleibt die seltsame Oberflächlichkeit, die sich nicht nur in der amerikanischen Community breitmacht. Niemand liest mehr Bücher, obwohl so viele veröffentlicht werden, sondern surft lieber stundenlang durch die Weiten des Internets und liest Fragen von irgendwelchen verunsicherten Müttern.
Meinungen stehen über wissenschaftlichen Erkenntnissen und Lügen sind die neuen Wahrheiten.
Der seltsame Freundschaftsbund zwischen der sympathischen Sam, die in der Woche für Elisabeth arbeitet und am Wochenende zum Essen kommt, um mit ihr eine Serie zu schauen, gerät durch Halbwahrheiten in eine Schieflage. Auch Sams älterer Londoner Freund, der kaum Geld verdient, erzählt nie die ganze Wahrheit über seine Vergangenheit.
Erfrischend ist bei J. Courtney Sullivan, die wirklich gut beobachtet, ihr Humor oder vielleicht eher die sarkastischen Gedanken, die manchmal Elisabeth durch den Kopf gehen. Als ihr Mann den Schwiegereltern erzählt, dass seine Frau nun endlich wieder arbeiten könne, da sie Sam für Gil gefunden hat, entsteht eine peinliche Pause.
„.. und Elisabeth fragt sich, ob sie gekränkt sein sollte. Aus seinem Munde klang es, als würde sie seit vier Monaten den Tag auf einer Luftmatratze im Pool treiben und Piña Coladas schlürfen.“
Auf jeden Fall empfehlenswert!