Alexis Schaitkin: Saint X, Aus dem amerikanischen Englisch von Wibke Kuhn, Ullstein Verlag, Berlin 2021, 476 Seiten, €24,00, 978-3-550-20103-5

„Finden Sie Alison ganz furchtbar? Ich muss gestehen, während ich mich in meine Schwester hineinversetze und ihr Leben nachvollziehe, verspüre ich manchmal den Drang, sie zu packen und zu schütteln. …
Eines will mir aber immer noch nicht in den Kopf: War Alison auf eine Art unerträglich, wie es jeder durchschnittliche Teenager sein kann, oder waren da dunklere Seiten im Spiel?“

Klein ist die Insel in der Karibik, paradiesisch der Strand von Indigo Bay. Hier in den Tropen erholt sich Familie Thomas neben vielen anderen amerikanischen Touristen eine Woche lang, bevor sie wieder in den eiskalten Winter New Yorks zurückkehrt. Alison mit den roten Haaren wirkt gelangweilt und genervt. Schnell fragt sich der Leser, warum eine Achtzehnjährige überhaupt noch Urlaub mit ihren Eltern macht? Alison verdreht die Augen, wenn der Vater jovial bei den Kellnern bestellt, sie schämt sich für sein Verhalten, wenn er generös ein Trinkgeld gibt und gleichzeitig darüber jammert, wie hoch die Preise für alles sind. Claire mit den weißblonden Haaren ist elf Jahre jünger und froh, dass die Schwester mit ihr spielt, denn die anderen Kindern suchen kaum ihre Gesellschaft.
Ein auktorialer Erzähler beobachtet die Menschen am Strand, registriert, dass auch dieses Paradies für die Privilegierten nicht perfekt ist. Er weiß, dass etwas Tragisches geschehen wird.

Alison verschwindet auf der Insel. Als sie tot im Wasser von der Freundin eines halbwegs bekannten Schauspielers gefunden wird, werden die beiden Kellner, die mit der Familie Thomas zu tun hatten, festgenommen. Clive Richardson und Edwin Hastie waren mit Alison des Nachts durch die Bars gezogen, sie hatten allerhand Drogen konsumiert und die junge Frau in dieser einen Nacht sich selbst überlassen. Ihrer Meinung nach hätte sie ohne Probleme zum Hotel zurückfinden können. Was ist nun geschehen? Haben die Männer Alison etwas angetan oder war es einfach nur ein Unfall? Wollte Alison den absoluten Kick, das wilde Abenteuer um jeden Preis?

Jahre später erinnert sich Alisons Schwester Claire an die Geschehnisse. Die beiden Verdächtigen wurden wieder freigelassen, da ihnen nichts nachzuweisen war. Familie Thomas setzt alle Hebel in Bewegung, um einen Schuldigen zu finden und scheitert.
Wie geht das Leben ohne die Tochter nun weiter? Die Familie zieht nach Pasadena. Der Vater stürzt sich in die Arbeit und werkelt in seinem Garten, die Mutter verschanzt sich hinter Büchern.

„Ich sah sie ohne mich: zwei Menschen, die Einsamkeit nebeneinander lebten.“

Claire nennt sich nun Emily und arbeitet in New York in einem großen Verlag als Assistentin. Die Eltern unterstützen sie finanziell weiter und doch lebt sich in einem ziemlich heruntergekommenen Viertel. Wie es der Zufall will, erkennt sie in einem Taxifahrer Clive Richardson wieder.
Sie provoziert ein Wiedersehen mit Clive, der nun seit siebzehn Jahren in den USA unter schlechtesten Bedingungen lebt und Taxi fährt, stalkt ihn und hofft, endlich alle Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Zwischendurch informiert der Erzähler die Leser und Leserinnen über den Fortlauf der Leben vieler Menschen, die unmittelbar Alisons trauriges Schicksal miterlebt hatten.
Die Freundin des Schauspielers stürzt sich in alle möglichen Therapien und schreibt ein Buch, dass als scheinbarer Versuch gewertet wird, einfach nur Geld zu machen. Touristenpaare lassen sich scheiden, Leute auf der Insel führen die Touristen an die Stellen, an denen Alison ihre letzte Nacht verbracht hat und verdienen mit Skrupeln am Tod des Mädchens. Sogar der erste Freund von Alison kommt zu Wort. Ausführlich wird der Leser mit Alisons Tagebuch vertraut gemacht, er erfährt vieles aus der Kindheit und Jugend macht sich ein Bild über ihre Ansichten und Meinungen. Aber auch Clive und Edwins Lebenswege, die einst beste Freunde waren, stellt die Autorin ausführlich vor. Tragisch ist, dass Clives Leben mit seiner Freundin Sara und seinem Sohn vielleicht ganz anders hätte verlaufen können, wäre er nicht im Gefängnis gewesen.
Claire vernachlässigt ihre Arbeit im Verlag immer mehr. Für sie wird die Suche nach Antworten zur traumatischen Obsession.

„Ich glaube, meine Eltern verstanden ihre eigenen Wünsche nicht, als sie beschlossen, noch ein Kind zu bekommen. Sie dachten, sie wollten noch ein anderes Kind aufziehen. In Wirklichkeit wollten sie Alison noch einmal aufziehen.“

Doch je mehr Claire sich in die Vergangenheit von Alison hineinschraubt, um so weniger ist zu verstehen, was wirklich in dieser Nacht ihres Todes geschehen sein mag.
Ausschweifend, detailverliebt und in einer fesselnden literarischen Sprache erzählt Alexis Schaitkin von einem tragischen Tod und seinen Auswirkungen auf die Lebenswege der Menschen, die davon mittelbar und vor allem auch unmittelbar betroffen waren.