Elisabeth Herrmann: Ravna – Tod in der Arktis, cbj in der Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2021, 463 Seiten, €22,00, 978-3-570-17608-5
„Wenn der Mord an Trygg etwas mit Ravnas Leuten zu tun hatte, wenn nach der schrecklichen Tat der uralte Brauch an ihm angewendet wurde … Langsam ging Ravna weiter. Dann, so setzte sich der Gedanke fort, sollte Trygg einigermaßen anständig in Jabaimo ankommen, dafür hatte ihm der Unbekannte die Birkenrinde zugesteckt. Und es dort nicht allzu schlecht haben. Dafür ein Tieropfer. Und zu guter Letzt sollte er seinen Mörder nicht als Wanderseele verfolgen. Dafür der Strich.“
Die siebzehnjährige Ravna Persen hat sich entschlossen, Polizistin zu werden. Ein Unding, denn Ravna lebt in Vardø am Polarkreis und gehört der Minderheit der Samen an. Eigentlich sollte sie die Rentierherde ihrer Mutter übernehmen. Enttäuscht zeigt sich auch Ravnas Großmutter Léna, die als Schamanin genauestens über die irdischen und überirdischen Traditionen der Samen Bescheid weiß. Inga, Ravnas Schwester, hat es hinaus in die Welt nach Oslo verschlagen.
Ravna kann auf der hiesigen Polizeistation im Winter ein Praktikum absolvieren, um dann mit guten Referenzen hoffentlich zur Polizeischule zu gehen. Allerdings können die Polizisten mit der jungen Frau wenig anfangen und der fette Mikkel, der sie bereits in der Schule gemobbt hat, lässt keine Gelegenheit aus, um sie zu demütigen.
Gleich am ersten Praktikumstag, die Tageshelle dauert höchstens eine Stunde, wird Ravna mit einer Leiche konfrontiert. Der reichste und verhassteste Same, Olle Trygg, wurde brutal an einem religiösen Ort der Samen ermordet. Ravna kann ihn an seiner Statur und seinem Ring identifizieren. Den Mordfall übernimmt der stets mürrisch dreinschauende Rune Thor aus Kirkenes. Er mischt die lahme Polizeistation von Vardø auf und überrollt alle mit seiner Energie. Allerdings verbirgt sich hinter seinem schroffen Kommandoton und seiner Schnelligkeit ein empfindsamer Mensch, der bereits Schlimmes erlebt hat und ziemlich viel Alkohol trinkt. Thor erkennt, dass er die eigensinnige Praktikantin Ravna braucht, wenn er mit den Samen ins Gespräch kommen will und er benötigt ihre Kenntnisse über den Glauben und die Kultur der Samen. Ravna hatte als einzige erkannt, dass der Tote mit samischen Opfergaben bedacht wurde.
Aber dann wird schnell ein Täter, ausgerechnet von Mikkel, ermittelt. Der Deutsche Harald Jensen wird blutüberströmt gefunden. Dieses Blut stammt von Trygg, von dem Jensen im Auftrag von Streamprom weitläufig Land kaufen wollte. Warum gerade Trygg als Same so viel Grund und Boden besitzt, haben die armen Samen nie verstanden. Angeblich ist er im Besitz einer Urkunde, die seine Rechte bestätigt. Doch Jensen ist nicht der Mörder.
Neben der akribischen Polizeiarbeit verwebt Elisabeth Herrmann spannend in die Handlung Geschichten über die Kultur der Samen, ihren Glauben ans Totenreich und ihren Umgang mit den Rentieren. Herb und rau zeigt sich die Landschaft am Polarkreis, die für Ortsunkundige eine Herausforderung darstellt.
Psychologisch geschickt und überzeugend spannt die Autorin das ungleiche Paar, Ravna und Thor, zusammen und zeigt, dass Ravna bei aller Unerfahrenheit doch ihren Instinkten folgen kann. Die Feindschaft der Samen gegen die Norweger und das Misstrauen der Norweger den Samen gegenüber spielt immer wieder eine Rolle bei Verhören und den Ermittlungen, die enorm Fahrt aufnehmen als auch noch die Frau von Trygg ermordet wird. Ein wichtiger Fakt, der immer wieder in Elisabeth Herrmanns Krimis auftaucht, sind geschichtliche Fakten. Auch die Samen schauen auf eine jahrhundertealte Geschichte zurück, in der Denunziationen und Hexenverbrennungen eine unrühmliche Rolle spielen. Ravna muss als Polizistin neutral bleiben, obwohl sie weiß, dass nur ein Same, der geschickt mit Messern umgehen kann und die Rituale kennt, der Mörder sein kann. Nach und nach schält sich der wahre Grund für die Morde an Samen durch einen Samen heraus. Zum einen geht es um das Land, das seit Urzeiten von Samen mit ihren Rentiere genutzt wird, zum anderen um unheilvolle Machtstrukturen.
Absolut spannend und atmosphärisch dicht erzählt Elisabeth Herrmann von Ravnas Praktikumstagen, die sie sich sicher nicht so aufregend vorgestellt hat.