Klara Jahn: Die Farbe des Nordwinds, Heyne Verlag, München 2021,397 Seiten, €20,00, 978-3-453-27313-9
„Die alten Friesen glaubten, dass die Kinder aus der Tiefe des Meeres kommen und die Eltern sie aus den Fluten ziehen.“
Der im Jahr 1798 geborene Sohn von Marten und Kaatje Nilson berichtet in einem Erzählstrang von seinem Leben auf einer Hallig. Schwer ist das Leben so nah am Meer, den Naturgewalten ausgesetzt meistern die Menschen ihren Alltag. Doch Kaatje Nilson, obwohl die Halligweiber stark sind, verzweifelt, als ihr Mann nicht mehr von der See zurückkehrte. Pastor Danjel aus Husum nimmt sich des Jungen an, sein kleiner Bruder Hendrik kommt zu Bauern in der Nachbarschaft. Später wird der Ich-Erzähler mit seiner Frau Gretjen, der Tochter des Pators, auf die Hallig zurückkehren.
Mit sechzehn Jahren landet Ellen, die am liebsten in ihren Büchern versinkt, mit ihrer flippigen Mutter Sunny auf einer Hallig. Sunny hat sich hier in den schweigsamen Bauern Thijman verliebt. In Liske, der Tochter des Bauern, findet Ellen eine Freundin, vielleicht sogar eine Schwester. Aber Sunny ist eine Weltenbummlerin, die es auf einer Warft mit ihren harten Bedingungen und den einfachen Halliglüd nicht lang aushält. Als es Landunter heißt und sich alle auf den Dachboden der Warft retten, wird Sunny klar, dass sie für dieses einsame Leben nicht geschaffen ist und wie immer sucht sie das Weite. Ellen muss ins Internat und Liske fühlt sich verlassen.
Wiederum zwanzig Jahre später kehrt Ellen als Lehrerin und auch Quereinsteigerin an der Halligschule zu ihrem Sehnsuchtsort zurück. Hier wohnt sie bei der bodenständigen Liske in der Ferienwohnung. Liske, die auf eine gewisse Weise doch sehr unbarmherzig geworden ist, lebt gemeinsam mit ihrem alten Vater und ihrem kleinen Sohn Jasper. Entgegen ihren Wünschen ist sie auf der Hallig, einem Teil des untergegangenen Marschlandes, geblieben. Sie bewirtschaftet allein den Hof und arbeitet für den Vogel- und Küstenschutz. Liske kann Ellen nicht unbefangen gegenübertreten, denn irgendwie brodelt in ihr noch die Enttäuschung über den damaligen, abrupten Weggang von Sunny und Ellen.
Auf zwei zeitlich versetzten Erzählebenen verfolgen die Leser und Leserinnen nun die Handlungen. Zum einen geht es um Ellens Ankunft und ihr Leben als Lehrerin auf der Hallig und zum anderen kehrt auch der Ich-Erzähler als Lehrer auf seine Heimathallig zurück. Im Hintergrund erscheint immer wieder ein Ereignis: 1825 – die große Halligflut.
Und so geht es in dieser Geschichte um die Naturgewalten Wind und Meer und die Menschen auf den Halligen und um die Frage des Weitermachens oder Untergehens, die Bewahrung des Alten und der Moderne. Der wichtigste Akteur in diesem Roman ist die einmalige Landschaft des Wattenmeeres und seiner Bewohner.
„Ich bin auch ein Sonderling, dachte Ellen. Sie hatte ebenfalls gesammelt, vor allem Wissen über die Halligen. Sie hatte mehr gelesen als erlebt, mehr gedacht als getan, sie glich einem unbearbeiteten Holzscheit, der nie Teil von etwas Größerem gewesen war.“
Als Lehrerin muss sich Ellen vielen Herausforderungen stellen, auch wenn sie nur fünf Schüler in unterschiedlichen Altersstufen hat. Da sind die Eltern, die Ellen das Leben schwer machen, besonders Almut, die Mutter der Zwillinge Jan und Nils. Sie ist die vegane „Schönheitskönigin“, die mit moderner Ernährung und schicken Klamotten als Übermutti der Gegenpart zu Liske darstellt. Doch Ellen lässt sich nicht so schnell einschüchtern. Sie schafft es sogar, die selbstbewusste Schulverweigerin Metha, Tochter des Tischlers Jakob, der in einem uthlandfriesischen Landhaus aus dem Jahr 1759 wohnt, wieder in die Schule zu locken. Metha hat Arjen Martensons Chronik in einer alten Truhe gefunden, in der auch von der Halligflut und ihren vielen Toten erzählt wird.
Nicht im Halligtonfall, bei dem man ohne Umstände zum Kern kommt, ist dieser Roman geschrieben. Klara Jahn kann wunderbar schreiben, denn ihre Mischung aus fiktionaler Erzählung und Wissensvermittlung über das spezielle Leben im Wattenmeer und auf den Halligen fasziniert jeden, der dieses Buch in die Hand nimmt.