Megan Hunter: Die Harpyie, Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen, C.H.Beck Verlag, München 2021, 227 Seiten, €22,00, 978-3-406-76663-3


„Jetzt hatte auch ich etwas Furchtbares getan. Ich würde mich hassen, mir wünschen, es nie getan zu haben. Doch das tat ich nicht. Noch nicht.“

Der „Normalitätsexperte“ Jake Stevenson hat ein Verhältnis zu seiner in diesem Fall mal älteren Fakultätsmitarbeiterin Vanessa. Sie ist neu an der Universität und gerade aus Schottland in die Stadt gezogen. Jake hatte sie, eher eine Ausnahme, zur Weihnachtsparty der Stevensons eingeladen. Attraktiv aber steif stand sie mit ihrem Mann im Raum, so Lucys Erinnerungen. Lucy ist die Ich-Erzählerin und betrogene Ehefrau von Jake. Völlig aus heiterem Himmel platzt die Nachricht vom Verrat in Lucys Alltagsleben mit den beiden kleinen Söhnen Paddy und Ted.

Es ist der Klassiker. Sie hat ihre Doktorarbeit aufgegeben, um sich mit freiberuflicher Tätigkeit nicht arbeitslos zu fühlen. Sie verbringt die meiste Zeit in geradezu identischen Tagen mit den Kindern im häuslichen, vermeintlich sicheren Gefilde, hält den Kontakt zur Elternwelt und den Nachbarn. Er fährt ( der Zug spielt eine wichtige Rolle ) in die Welt hinaus, um das Geld zu verdienen. Jake und Lucy haben sich früh kennengelernt und somit auch früh eine Familie gegründet. Nun müssten sich die beiden mit dem Ehebruch Jakes auseinandersetzen, aber dazu kommt es gar nicht. Sie spielen weiterhin das harmonische Paar vor den Kindern und können sich nicht mal in die Augen sehen. Vertrauen ist verspielt und Jakes Reue überzeugt Lucy nicht.

Worauf die beiden sich in ihrer Sprachlosigkeit einigen können, ist physische und psychische Gewalt. In Lucys Erinnerungen spielen diese in der Ehe ihrer Eltern eine Rolle. Als Kind hat Lucys durchaus mitbekommen, wie der Vater die Mutter gedemütigt hat.
Lucy darf nun Jake unangekündigt verletzen. In Lucys gedanklichen Abschweifungen taucht das Dunkle, Unberechenbare in der Figur der Harpyie immer wieder auf. Hat sich Lucy an der Universität mit diesem geflügelte Mischwesen der griechischen Mythologie in Vogelgestalt mit Frauenkopf auseinandergesetzt, so wird diese Gestalt für sie in der Gegenwart zu einer Obsession.
In Erinnerungen an eine Buch aus der Kindheit schwelgend sieht Lucy eine grausige Harpyie, die ein unschuldiges Einhorn quält.

Überfordert mit ihrer Mutterrolle, alles soll wie immer perfekt sein und ist es ganz und gar nicht, gerät Lucys Vorstellungswelt in eine Schieflage. Rechtfertigungen für zu langes Fernsehen der Kinder, immer neuen Streitereien und ihrer Sehnsucht nach Zeit für sich wechseln nun mit Gedanken, wie sie den nach außen hin reuig wirkenden Jake strafen kann. Ungerührt vergiftet Lucy Jakes essen, um ihn dann beim Kotzen zuzusehen, und ihm in diesem Fall ganz ruhig die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

Als Lucy bemerkt, dass Jake seine Kontakte zur verhassten Vanessa nicht abgebrochen hat, gewinnen die Strafaktionen an Dynamik, bis hin zur Existenzbedrohung Jakes.
Lucy wird die Familie mit ihren lächerlichen Texten von Handbüchern für Produkte nicht ernähren können. Die Kinder spüren den nur noch zur Schau geführten Alltag, denn Lucy ist schon längst nicht mehr in der Realität. Die Art, die Dinge in Ordnung zu bringen, die Jake vorgeschlagen hat, endet für die immer verwirrter reagierende Lucy in einem inneren Drang nach Verletzungen und Blut.

Megan Hunter spürt den Mittelstandsfamilien nach, die sich selbst in ein Korsett geschnürt haben und offensichtlich nicht ohne verbrannte Erde ausbrechen können.
Nah an Lucys Gedankenwelt findet die britische Autorin eine sehr minimalistische wie eindrückliche Sprache für Alltagsszenen, denen man sich als Leser nicht entziehen kann.

„Wie der Tod, so ist auch ein Kindergeburtstag erst real, wenn er geschieht, er lässt sich weder wirklich planen noch vorstellen. Er ist immer unerwartet.“

Das Innen und Außen verkehrt sich für die Stevensons im Zusammenleben immer mehr und endet im Wahn eines Ungeheuers.