Claire Winter: Kinder ihrer Zeit, Diana Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2020, 576 Seiten, €20,00, 978-3-453-29195-9
„Trotz aller Wiedersehensfreude kam es Emma vor, als würde es eine unsichtbare Trennungslinie zwischen ihnen geben. Ihre Schwester stellte zwar viele Fragen, aber mit ihren eigenen Antworten blieb sie vage und zurückhaltend. In manchen Augenblicken konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Alice ihr etwas verheimlichte.“
Der Krieg ist, auch wenn niemand es wirklich wahrhaben will, verloren. Flucht heißt 1945 Verrat, aber Rosa Lichtenberg sieht mit ihren elfjährigen Zwillingen, Emma und Alice, keinen Ausweg. Sie müssen Königsberg vor dem Ansturm der russischen Armee verlassen. In einem existenziellen Moment lässt die Mutter die kranke Alice bei einer Bäuerin zurück und glaubt, dass ihr Kind auf tragische Weise im Feuer des Hauses, von den Russen angesteckt, verbrannt ist. Doch Alice lebt, denn Sergej, ein russischer Offizier, hat sie gerettet. Ein deutsches Kind. Alice erinnert ihn an seiner tote Tochter Karina. Er wird bis zu seinem gewaltsamen Tod an ihrer Seite bleiben.
Über sechzehn Jahre verfolgt Claire Winter nun die Lebenswege der Zwillinge, wohnt Emma mit ihrer Mutter in Westberlin, so lebt Alice in der Hauptstadt der DDR, Berlin. Rosa arbeitet in einem Kiosk in Zehlendorf, um sich und ihre Tochter durchzubringen. Sie erkrankt an Tuberkulose und stirbt früh.
Emmas Jugendfreund Max, der sich im KgU, der Kampftruppe gegen Unmenschlichkeit, einem antikommunistischen Verband organisiert hat, gibt ihr Halt. Max und auch Emma müssen erfahren, wie wenig Verständnis ihre Mitmenschen für Flüchtlinge aufbringen. Max Weiß kehrte mit seinen Eltern aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurück, Emma aus den Ostgebieten. Sie kennt die üblichen Beschimpfungen als „dreckiges Gesocks oder Pollackin“. Sie durchläuft eine Ausbildung als Dolmetscherin, denn durch den Kontakt zu einem amerikanischen Offizier hat sie ihr Sprachbegabung entdeckt. Max studiert Jura und kann durch die Verleumdungen eines immer noch rechtsnationalen Polizisten seine Bewerbung beim BND vergessen.
Alice lernte Russisch, landete dann in Kinderheimen und wurde von Sergejs Vorgesetzten, Markov Grigorjew, ausersehen, um für den KGB zu spionieren. Als Sekretärin arbeitet sie in der Akademie der Wissenschaften, später in Zeuthen, im Institut für Kernphysik. Hier ist auch der Physiker Julius Laakmann tätig und sein guter Freund Dr. Sigmund Haushofer, der nach dem Krieg fünf Jahre in der Sowjetunion weilte. 1951 zurückgekehrt, entschließt er sich zur Flucht in den Westen. Zutiefst enttäuscht trifft Julius ihn bei einem Kongress in Westberlin und muss erleben wie Haushofer entführt wird. Offenbar landet er wieder in Moskau.
Inzwischen hat Alice herausgefunden, wo Emma lebt. Ihr Wiedersehen ist vom Tod der Mutter überschattet und doch glücklich. Allerdings trennen die Schwestern durch deren unterschiedliche
Lebenswege und ideologische Beeinflussungen Welten. Alice, Emma, Max und Julius lernen sich kennen und niemand ahnt, welche verheerenden Folgen ihre Freundschaft haben wird.
Indoktriniert vom sowjetischen Machtapparat und der furchteinflößenden Präsenz Grigorjews nutzt Alice ihre Möglichkeiten, um den KgU auszuspionieren. Dies führt zu Verhaftungen in der DDR.
Grigorjew hofft natürlich durch Emmas Dolmetschertätigkeit, z.B. an der Seite von Willi Brandt, und Alice‘ Loyalität an Informationen zu gelangen. Immer enger zieht sich die Schlinge um Alice‘ Hals, die kurzerhand zum Schutz der Schwester den Kontakt abbricht.
Dieses Schweigen zwischen den Geschwistern steht auch für den kalten Krieg zwischen den herrschenden Systemen, der im Bau der Berliner Mauer kulminieren wird.
Claire Winter konstruiert eine dramatischen Ost-West-Geschichte, die sich bis zum Zeitraum kurz vor 1961 zieht. Sie erzählt von den großen historischen Ereignissen, die die Welt nah einen dritten Weltkrieg geführt hat. Allerdings kann man trotz guter Recherche mit keiner ihrer literarischen Figuren so richtig warm werden. Holzschnittartig gezeichnet sind ihre Protagonisten, wobei jede literarische Figur auf eine bestimmte Weise mit den damaligen politischen wie gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden ist, ob es sich nun um den CIA, den KGB oder die Stasi handelt.
Die Autorin erzählt multiperspektivisch, mal aus der Sicht der Zwillinge, aber auch aus der von Justus oder Markov. Verschwiegen wird nicht, dass im westdeutschen System noch altes faschistoides Gedankengut verbreitet ist, im östlichen Teil jedoch die Flüchtlinge in den Westen strömen und dem sozialistischen System nicht vertrauen. Die Welt ist gespalten und sie wird es noch eine ganze Weile bleiben, vielleicht sogar bis heute.