Harlan Coben: Der Junge aus dem Wald, Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski, Goldmann Verlag in der Randomhouse Verlagsgruppe, München 2020, 464 Seiten, €15,00, 978-3-442-20615-5
„Eine Woche später wurde Naomi Pine wieder vermisst. Alle gingen davon aus, dass sie ausgerissen war. Vier Tage später wurde ein abgetrennter Finger gefunden.“
Auch wenn der Thriller den seltsamen Titel „Der Junge aus dem Wald“ trägt, geht es zwar einerseits um Schicksale Jugendlicher, aber andererseits doch eher um ernste Verstrickungen politischer Mandatsträger, die nicht so einfach aus der Welt zu schaffen sind.
Der Junge aus dem Wald ist mittlerweile erwachsen und nennt sich sehr passend zu seiner undurchsichtigen Biografie Wilde. Wilde wurde als Achtjähriger im Wald in New Jersey gefunden. Wie lange er dort überlebt hat, weiß niemand. Klar ist nur, das Kind hat besondere Anlagen und diese haben ihm geholfen, zu überleben. Niemand kann seine Herkunft erklären und so wächst er in einer Pflegefamilie auf, geht zum Militär, arbeitet bei einer Sicherheitsfirma. Jetzt ist er wieder in seinen Wald zurückgekehrt, in dem er sich am wohlsten fühlt. Hier hat er ein ungewöhnliches Haus, ein Mikro-Smart-Haus aufgestellt, mit dem er von einer Sekunde zur nächsten den Ort auch wieder verlassen kann. Die Idee in einem Büro zu arbeiten, ist für Wilde absurd. Der gut durchtrainierte, langhaarige und offenbar attraktive Mann benötigt den freien Raum für sich. Dabei ist er nicht autistisch veranlagt, er hat sporadischen Kontakt zu seiner Pflegefamilie und zur Staatsanwältin Hester Crimstein, mit deren Sohn David, der bei einem Unfall ums Leben kann, er sehr gut befreundet war. Davids Sohn wiederum heißt Matthew und dieser bittet Wilde um Hilfe. An seiner Schule wird Naomi Pine, ein sehr stilles Mädchen, gnadenlos gemobbt. Die stärksten und beliebtesten ( Was auch immer das heißen soll: reiche Eltern, gutes Aussehen, gute Noten? ) Schüler quälen Naomi und sie wehrt sich nicht. Allen voran: Crash Maynard. Sein Vater Dash ist ein ehemaliger Dokumentarfilmer, der sich durch eine erfolgreiche Fernsehsendung mit dem derzeitigen Senator von New Jersey, Rysty Eggers, extrem reich wurde. Beide verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, die, das wird sich im Laufe der Geschichte herausstellen, dunkle Flecken hat.
Als Naomi verschwindet, macht sich Matthew Sorgen. Um dazuzugehören, hat er sich mit ihr einen miesen Spaß erlaubt und nun nagt, zum Glück, sein Gewissen. Wilde erkennt die Außenseiter-Rolle des Kinder, die ihn besonders berührt und zugleich verärgert. Nur eine Lehrerin nimmt sich des Kindes an und versucht ihm, Kraft zu spenden. Alle anderen in der Schule, einschließlich der Lehrer ( Was für eine Gesellschaft! ) freuen sich am Leid Naomis.
Parallel wird erzählt, dass sich Rusty Eggers berufen sieht, das Präsidentenamt anzusteuern.
Der Sicherheitsdienst von einem guten Vertrauten von Rusty, Gavin Chambers, Colonel im Ruhestand, wurde engagiert, um die Familie Maynard zu bewachen. Doch aus welchem Grund?
Naomie jedenfalls taucht wieder auf und alles wird für sie noch schlimmer. Doch dann verschwindet das Mädchen erneut und auch der unausstehliche Crash Maynard ist wie vom Erdbogen verschluckt. Wilde beginnt, nach den beiden Jugendlichen zu suchen. Dass sie zusammen abgehauen sind, ist eher unwahrscheinlich. Klar ist, dass Naomis Mutter nie zu ihrem adoptierten Mädchen, dass als Baby zur Familie kam, Kontakt wollte. Auch der Vater Naomis scheint sich eher um sich selbst zu kümmern, als um sein Kind.
In vielen Varianten zeigt Harlan Coben die amerikanische Ellenbogengesellschaft in ihrer Mitleidlosigkeit, Gleichgültigkeit und vor allem in ihrem Egoismus. Wie die politische Elite die Medien für sich nutzt, wird ausführlich erläutert.
„Man stiftet Chaos und Verwirrung. … Es funktionierte, Und wenn man die Geschichte betrachtete, hatte es im Prinzip immer funktioniert.“
Beginnt der Thriller ziemlich behäbig mit der Geschichte des wilden Jungen und der Beschreibung der gnadenlosen Schülerschaft, die Naomi mobbt, so wächst er sich im Laufe der Handlung zu einer absolut spannenden Geschichte mit besonderer politischer Sprengkraft aus.
Ab dem zweiten Teil kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen, denn ein Ereignis toppt das nächste.