Gilly Macmillan: Die Nanny, Aus dem Englischen von Sabine Schilasky, Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Randomhouse, München 2020, 444 Seiten, €13,00, 978-3-7645-0717-6
„Wenn die Polizei den Schädel als den von Hannah Burgess identifiziert – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es so weit ist -, was soll ich dann tun?“
Die exaltierte Lady Virginia Holt bleibt fast das Herz stehen, als ihre Tochter Jocelyn Lucia Venetia Holt, kurz Jo genannt, und ihre zehnjährige Enkelin Ruby bei einem Kajakausflug im See von Downsley bei ihrem Anwesen einen eindeutig deformierten Schädel finden. Die Polizei nimmt die Ermittlungsarbeit auf und schnell ist klar, der Schädel gehört einer jungen Frau. Lady Holt ahnt, wer die Tote sein könnte. Sprechen kann sie mit niemandem, denn ihr Verhältnis zu ihrer Tochter ist seit Jahren vergiftet.
Als Hannah Burgess, die Nanny, das Anwesen von einem Tag auf den anderen verlassen hatte, Jo war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt, verschlechterte sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter extrem. Ausschlaggebend war auch, dass Lady Holt dem Kind die Schuld für Hannahs Flucht gegeben hatte und es von London aus ins Internat geschickt wurde. Nach zehn Jahren muss Jo aus finanziellen Gründen nun aus den USA wieder in die englische Heimat zurückkehren. Ihr Mann Chris ist bei einem Autounfall umgekommen. All das Geld der Kleinfamilie steckt in einer neuen Firma, die pleite gehen wird.
Die britische Autorin Gilly Macmillan erzählt multiperspektivisch aus der Sicht von Jo, Virginia und Detektive Andy Wilton. Außerdem kann der Leser in den kursiven jährlich festgeschriebenen Passagen erfahren, wie aus Hannah Burgess eine völlig neue Person, eine Nanny, wird. Abgesehen hat sie es bei ihrer Arbeit auf die Familienväter, die ihr immer auf den Leim gehen. Hannah ist empathielos, sie kneift die Kinder, droht ihnen gern, manipuliert sie und mixt den Jungen und Mädchen, wie Ehefrauen Tabletten ins Essen. Die einzige, die Hannah je vergöttert hat, ist Jo. Als Hannah dann eines Tages nach dreißig Jahren vor dem herrschaftlichen Anwesen der Holts wieder steht, empfindet Jo ihr Erscheinen als göttliche Erlösung. Für Virginia Holt ist Hannahs Auftauchen wie die Rückkehr des Teufels aus der Hölle. Ist es wirklich die Nanny? Der Leser, der Jo immer ein paar Schritte voraus ist, weiß, dass die so unbescholtene Viktoria und ihr Ehemann Alexander, er hatte ein Liebesverhältnis mit Hannah, die angeblich tote Nanny im See versenkt haben. Wie genau dies alles vonstatten ging, löst sich erst im Laufe der Handlung auf.
Zwischen den drei Frauen beginnt nun eine durchtriebenes Kammerspiel. Die ahnungslose Jo engagiert Hannah als Nanny für Ruby, die aber lieber bei ihrer Granny sein möchte und Hannahs Wesen schnell durchschaut hat. Jo arbeitet für einen Galeristen in London, der eine äußerst dubiose Rolle spielen wird. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen nun Eifersucht, die Sehnsucht nach einer bedingungslosen Liebe, aber auch Lügen und Rängespiele. Völlig perplex registriert Lady Holt, dass bereits ihr verstorbener Mann Alexander Hannah Schweigegeld zahlen musste. Er hatte auch den finanziellen Ruin der einst so angesehenen Familie verursacht.
Außer der unschuldigen Jo spielen nun alle ein doppeltes Spiel. Virginia wird von Hannah bedroht und erpresst, Hannah versucht, Jo in ihrem Sinne gegen Ruby aufzuhetzen und als Jo auch noch ihre alte Nanny dazu auffordert nach Lake Hall zu ziehen, ist Virginia völlig außer sich. Dass diese Konstellation der Frauen auf eine Katastrophe zurast, versteht jeder Leser. Am Ende, keine Frage, gibt es noch eine Tote.
Spannend bis zur letzten Seite liest sich dieser Krimi, denn Gilly Macmillan schafft es ihre Figuren in ihrer Innensicht zu respektieren und deren Handeln verständlich zu machen: durch Differenzierung und Detailreichtum.