Sasha Filipenko: Rote Kreuze, Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 278 Seiten, €22,00, 978-3-257-07124-5


„Stalins Experiment war geglückt – gefangen war der Mensch nicht länger in einem Anstaltsgebäude, sondern in seinem eigenen Schicksal.“

Alexander zieht von Russland nach Weißrussland, nach Minsk. Hierher hat seine Mutter geheiratet, hier findet er eine Wohnung für sich und seine drei Monate alte Tochter. Im Haus lernt Alexander die einundneunzigjährige Tatjana Alexejewna kennen. Sie hat Alzheimer und behauptet, dass sich Gott vor ihr fürchtet, denn sie würde ihm ziemlich viele unbequeme Fragen stellen. Die alte Frau zeichnet rote Kreuze an Türen, damit sie wieder nach Hause findet. Ob Alexander, den alle Sascha nennen, es nun will oder nicht, Tatjana erzählt ihm schon sehr starrsinnig ihre tragische Lebensgeschichte.

In einem Interview berichtete der Autor Sasha Filipenko, dass der russische Staat nach einer kurzen Zeit der Öffnung wieder alles daran setzt, damit die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts, gerade in der Stalin-Zeit und auch im Sowjetregime vergessen werden. Historische Dokumente ( kursiv im Roman gekennzeichnet ) vom Genfer Roten Kreuz lagen Sasha Filipenko vor, die ihn dazu bewegten, diesen unglaublich berührenden, wie dramatischen Roman zu schreiben.

Sascha hat ein schweres Schicksal, so stirbt seine geliebte, junge Frau vor der Geburt der Tochter an Krebs. Eine große Hilfe ist ihm ein Arzt, der das Kind rettet und sogar ein Priester. Weniger Anteil nehmend ist Saschas Vater. Bleibt das Kind noch bei Saschas Mutter, so entwickelt der Sohn zum neuen Stiefvater gleich eine Antipathie. Dieser glaubt hörig, was die Medien vom Diktator „Väterchen Lukaschenko“ verbreiten. Für ihn sind alle, die im Lager, den sogenannten „Umerziehungslagern“ Stalins saßen, Verbrecher oder Leute, die schon etwas Schlimmes getan haben müssen.

Auch Tatjana wurde 1945 zu fünfzehn Jahren Lagerhaft nach Verhören mit mehrfachen Vergewaltigungen verurteilt. Ihre Tochter Assja wurde ihr genommen. Tatjana wusste durch ihre Arbeit im Außenministerium nur, dass ihr Mann in rumänischer Gefangenschaft war.
Und sie wusste, dass der NKWD gemäß der Sippenhaft alle verfolgte, deren Angehörige in Gefangenschaft geraten sind. Die Sowjetunion kümmerte sich, trotz regem Briefverkehr mit dem Roten Kreuz nicht eine Sekunde um die Gefangenen im Ausland, im Gegenteil, sie verfolgte unschuldige Angehörige als Volksfeinde in einem rechtsfreien Raum und pferchte diese in Lager unter unmenschlichsten Bedingungen ein:

„Ich glaube, ich hätte das nie im Leben geschafft. Innerhalb einer Sekunde zu begreifen, dass die Gefangenschaft des Ehemannes Einfluss auf die Zukunft der Tochter haben könnte ….“

Als Tatjana erst nach zehn Jahren, die vorangegangenen Amnestien sahen sogenannte „Volksfeinde“ nicht vor, das Lager verlassen konnte, stand sie vor dem Nichts. Ihre Suche nach Ehemann und Tochter gestalten sich qualvoll. Hinzu kommt, dass sich Tatjana in einem schweren Gewissenskonflikt befand, da sie selbst glaubte, durch ihr Handeln gegenüber einem Soldaten schuldig geworden zu sein.

So spiegelt der Autor in diesem Roman zum einen ein persönlich wirklich trauriges gegenwärtiges Schicksal, den Tod der jungen Mutter, aber er zeigt auch anhand des bitteren Lebenslaufes von Tatjana, was einer ganzen Generation unter dem Stalin-Regime angetan wurde. Vieles spart Filipenko auch aus, denn wie ein Mensch wie Tatjana ohne Hoffnungen, Träume und zutiefst gedemütigt nach all ihren Schicksalsschlägen weiterleben konnte, wird sich nicht nur Sascha, sondern auch der Leser fragen.
Altbekannte Machtstrukturen mit entsprechender Propaganda halten sich auch heute, ob nun in Weißrussland oder in Russland. Die maßgeblichen Politiker verfremden die moderne Geschichte und dagegen möchte der zutiefst berührende Roman von Sasha Filipenko ein Zeichen setzen.