Isabelle Autissier: Klara vergessen, Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig, Mare Verlag, Hamburg 2020, 304 Seiten, €24,00, 978-3-86648-627-0
„Er war entsetzt darüber, wie ein einzelnes Sandkorn, die harmlose Treue gegenüber einem Professor, das Leben mehrerer Generationen außer Kontrolle geraten lassen konnte.“
Nach Eugen Ruges Roman „Metropol“ und Sasha Filipenkos Roman „Rote Kreuze“ befasst sich auch Isabelle Autissier mit der Gewaltherrschaft Stalins und den Straflagern, den Gulags in der ehemaligen Sowjetunion. Wie sehr das heutige Russland unter dem Dauerherrscher Wladimir Putin, der von der Macht nicht lassen kann und den Personenkult kultiviert, an einer verharmlosenden Umschreibung der eigenen Geschichte interessiert ist, ist hinlänglich bekannt. Mag sich einiges in Russland verändert haben, von einem demokratisch geführten Land kann kaum die Rede sein. So wird der Leser auch gleich ziemlich schnell darüber informiert, dass bereits 2008 Festplatten des Archivs mit Informationen zu zwanzig Millionen Häftlingen des Gulags konfisziert wurden.
Die französische Autorin dieses Romans erzählt in Rückblenden vom Leben einer russischen Familie in Murmansk, der nördlich des Polarkreises gelegenen Hafenstadt auf der russischen Halbinsel Kola.
Hierher reist Juri nach dreiundzwanzig Jahren. Im Jahr 1994 ist er mit einem Doktorandenstipendium in die USA gegangen und nie wieder in die Heimat zurückgekehrt. Als Professor für Ornithologe arbeitet er erfolgreich, er hat einen Freund, mit dem er zusammenleben kann, in Russland wäre das eher ein Problem. Per Mail wurde ihm mitgeteilt, dass sein Vater Rubin im Sterben liegt und ihn sehen möchte. Wenn Juri auf seine Kindheit schaut, dann erinnert er sich an die Schläge des Vaters, die ihn zum einem Mann werden lassen sollten, an die Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit der Mutter, die sich nur für materiellen Besitz interessierte und den jammernden Großvater Anton, der offenbar eine Schuld mit sich herumtrug.
Als Juri am Bett des verhassten, alkoholkranken Vaters, der als Kapitän für die Fischfangflotte einst arbeitete, sitzt, bittet dieser ihn, herauszufinden, was mit seiner Mutter Klara nach ihrer Verhaftung 1950 geschehen ist. Offiziell hieß es in der Familie, Klara sei an einer Lungenentzündung gestorben. Juri beginnt mit seinen Recherchen, die schnell an Grenzen stoßen, und er schweift mit seinen Gedanken immer mehr in die Vergangenheit ab. Er taucht in seine Kindheitserinnerungen ein, den blinden Glauben an den Kommunismus und die harte Hand seines Vaters, die aus ihm einen Seemann machen wollte. Dass beide Männer durch Gewalt, Demütigungen und das Gefühl ausgestoßen zu sein, zu schuldigen und auch unschuldigen Mördern geworden sind, lässt tief in die Seele der so ruhmreichen Sowjetunion blicken. Eine Gesellschaft, die mit Misstrauen und brutaler Willkür Millionen Menschen in Straflager schickte und dann nach Stalins Tod 1953 einige entließ und diese nicht rehabilitiert mit ihrem Schicksal klarkommen mussten, hat nichts mit einer humanistischen Gesellschaft zu tun.
Auch Rubins Leben wird vor dem Auge des Lesers aufgeblättert, seine eigenen Unsicherheiten, die er dann wiederum bei seinem Sohn beobachtet, all die Demütigungen und dann die Wende seines Charakters zum Despoten, Säufer und Schläger. Interessant ist sein Blick auf die Entwicklung seines Sohnes in Kindertagen. All seine Wut auf die Mutter, die ihn vermeintlich verlassen hat, den schwachen Vater und die eigenen Unzulänglichkeiten tobt dieser Mann an seinem eigenen Kind aus. Doch der Sohn Juri kann sich aus diesen vermeintlichen schicksalhaften Verstrickungen durch die Flucht befreien.
Juri wird am Ende eine Akte erhalten, die ihm Klaras Leben in Auszügen offenbart. Wer war sie?
Hat Anton wirklich seine eigene Frau, die als Geologin und Wissenschaftlerin einfach nur zu ihrem Doktorvater gehalten hat, denunziert? Wäre sie auch so zu 25 Jahren Lagerhaft wegen angeblicher Sabotage und antisowjetischer Propaganda verhaftet worden? War sie eine mutige Frau oder doch auch in Gefangenschaft eine Verräterin?
„Beim Durchforsten der Vergangenheit suchte er auch ein wenig sich selbst, denjenigen, der ebenso Antons Zaghaftigkeit wie Klaras Aufsässigkeit geerbt hatte. Hätten diese beiden Menschen nicht zu jener Zeit gelebt, wäre Rubins und auch sein eigenes Leben anders verlaufen. Dieser Gedanke quälte ihn.“
Isabelle Autissier spielt auf der Klaviatur des Leidens im wechselvollen 20. Jahrhundert, dabei bleiben ihre Figuren ambivalent und der Leser kann erkennen, warum Menschen sich zu dem entwickeln, was sie letztendlich sind. Etwas zu klischeehaft allerdings ist das Bild des kleinen Jungen, der die Vögel beobachtet, sie um ihre Freiheit beneidet und Ornithologe wird.
Aber gut, entstanden ist auf jeden Fall eine ergreifende, detailreiche Geschichte, wobei man ab und zu das Buch schließen muss, da man die geballte Gewalt, die Menschen in einer verrohten Gesellschaft einander antun, nicht ertragen kann.
Eingeschlichen haben sich geschichtliche Ungenauigkeiten, so wurde Leningrad erst 1991 in St. Petersburg umbenannt. Und wenn Leute ein Fernglas bekommen haben, stammte dieses garantiert nicht aus „Ostdeutschland“, sondern der DDR.