Katherena Vermette: Was in jener Nacht geschah, Aus dem Englischen von Kathrin Razum, btb Verlag, München 2019, 408 Seiten, €20,00, 978-3-442-75821-0



„Wir sind auf die eine oder andere Weise beschädigt worden.“

Die junge Stella, gerade Mutter geworden und ziemlich verängstigt, ruft die Polizei in Winnipeg, North End, da sie vom Fenster aus eine grausige Tat beobachtet hat. Doch als die Beamten eintreffen, ist nur noch eine Blutlache zu sehen. Stella beschreibt das Opfer als kleine, schmale Person. Officer Scott, der zur Métis-Gemeinschaft gehört, sein Vater war weiß, die Mutter ist eine Indigene, „eine Rothaut“ wie jemand sie ohne nachzudenken nannte, wird auch von seinem Kollegen Officer Christie, einem faulen, uninteressierten Polizisten gegängelt. Tommy Scott hasst diese Reden darüber, ob jemand ein Halbblut ist oder ein Weißer. Er hasst auch seinen Vater, der sich über die Mutter lustig gemacht und sie als aggressiver Alkoholiker oft geschlagen hat.

Als klar wird, dass das Opfer die dreizehnjährige Emily ist, fühlt Tommy einfach nur Mitleid und Wut. Emilys Verletzungen weisen darauf hin, dass sie mit einer Glasflasche brutal vergewaltigt wurde und zusammengeschlagen. Sie will nicht reden, sie hat angeblich Angst vor den Gangs, die sich in der Umgebung herumtreiben. Dass sie mit ihrer Freundin Ziggy, die auch zusammengeschlagen wurde, auf einer Party war, muss sie ihrer Mutter Paul nun beichten. Doch was ist wirklich geschehen?
Aus vielen unterschiedlichen Richtungen erzählt die kanadische Autorin von einer Familie, die zu den Anishinabe gehören. Aus Stellas, Emilys, aber auch Pauls oder Lous und Cheryls Sicht, Töchter, Mütter und Cousinen, aber auch aus der Sicht von Emilys Freundin Ziggy oder aus Tommys Blickwinkel wird erzählt. Von Anfang an ist klar, dass die Frauen, die misstrauisch sind und Diskriminierung kennen, zusammenhalten und die Familien ernähren. Stella, die mit dem Opfer verwandt ist, hat sich seit sie mit Jeff lebt, von allen entfernt, sogar von ihrer Großmutter, die manchmal etwas verwirrt ist. Die junge Mutter möchte zu gern woanders wohnen, aber nur dieses Haus in North End kann Jeff finanzieren.

Es dauert eine Weile, ehe man als Leser versteht, wer wer ist und wie die Verwandtschaftsverhältnisse trotz Stammbaum am Ende sind. Was als Thriller beginnt, offenbart sich im Laufe der Handlung als extrem traurige Familiengeschichte und Sozialdrama. Immer wieder werden die einzelnen Reflexionen des zahlreichen Personals durch Erinnerungen durchbrochen, die schwer zu lesen sind. Sexuelle Übergriffe auf die Cousinen als Kinder werden thematisiert, aber auch der Tod von Cheryls Schwester Rain, die auf unendliche tragische Weise umgekommen ist.
Der Winter als Jahreszeit spiegelt die Kälte und vor allem die Unbarmherzigkeit wieder, mit der diese Frauen, die alle Kinder von verschiedenen Männern haben, klarkommen müssen.

Alkohol, Langeweile, Lieblosigkeit, Drogen und vor allem Gewalt prägen das Leben dieser Menschen, die Katherena Vermette, und das macht das Geschehen authentisch, aus eigener Erfahrung kennt.

Tommy Scott jedenfalls gibt nicht auf und versucht um jeden Preis, die Schuldigen zu finden.

Katherena Vermettes Debütroman muss man zu Ende lesen, auch wenn die Lektüre den Leser fordert, jedoch auch für Zwischentöne sensibilisiert.