Judith Merchant: Atme!, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019, 375 Seiten, €15,00, 978-3-462-05223-7
„Oh, es ist nicht auszuhalten, dass die Monster immer siegen! Egal, wie achtsam man ist, sie lauern nur auf den einen Moment, wo sie zugreifen können mit ihren Krallenhänden und dann schleifen sie dich unters Bett und ziehen dich in ihr dunkles Reich.“
Ben und Nile sind ein sich liebendes perfektes Paar. Als sie in einem teuren Geschäft ihr Hochzeitskleid in seinem Beisein anprobiert, ist er plötzlich verschwunden. Doch wie kann das sein? Ist er entführt worden? Nile glaubt das, denn es gibt eine feste Regel zwischen ihnen, egal was ist, jeder geht sofort ans Handy, wenn der andere anruft. Panik erfasst die junge, völlig überreagierende Frau und sie versucht alles, um ihren Freund zu finden. Oder sollte man sagen, sie agiert wie ein Menschen, dem der wichtigste Besitz verloren gegangen ist? Sie steht sogar vor Flos Haus, der Ex-Frau von Ben, die vor fünfzehn Monaten verlassen wurde. Flo hat sich gegen die Trennung vehement gestellt, ja sie ist nicht nur verbal ausfällig geworden, sie hat Ben geschlagen. Beide Frauen, immerhin war Flo mit Ben fünfzehn Jahre verheiratet, machen sich nun auf die Suche nach dem Vermissten. Aber auch Flo hat etwas zu verbergen. Wollte Ben wieder zu ihr zurück oder sich einfach nur klammheimlich aus der Beziehung zu der narzisstischen Nile hinausschleichen?
Der Leser sitzt sozusagen in Niles Kopf und erlebt das Geschehen aus ihrem Blickwinkel. Allerdings muss er feststellen, dass vieles was Nile in ihrem inneren Monolog abspult mit der Realität der anderen nicht übereinstimmt. So behauptet Flo, dass Nile Ben geschlagen hätte und ihre angebliche Hysterie nach der Trennung sei ebenfalls nicht real, denn eigentlich hatten sich Flo und Ben schon weit voneinander entfernt. Immer sind Ben und Nile allein, nie gesellen sich Freunde dazu, außer die Monster, die Nile in ihrer Fantasie aus Kindertagen unter ihrem Bett vermutet, lassen sie nicht los. Ein Monster ist sogar real, oder doch nicht? Sie muss dann ruhig atmen und Bens Hand spüren, nur dann kann sie wieder gesunden. Aber wo ist er? Ist er im Urlaub, wie sein Freund Marcus, der Nile argwöhnisch mustert, behauptet?
In Worthülsen, die offenbar Niles gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit abbilden, verliert sich die Dramatik dieser Geschichte, die von einer manisch depressiven und extrem manipulativen Person erzählt wird. Oder ist doch alles ganz anders und verdrehen wir als Leser die Tatsachen?
Judith Merchant führt den Leser in ihrem Thriller-Debüt auf eine psychologisch gefahrvolle Achterbahnfahrt mit ungewöhnlichen Wendungen. Wahrnehmungen, innere wie äußere, können täuschen, was für Tiefe gehalten wird, ist eigentlich Oberfläche, was für eine verzweifelt liebende Erzählerin die ideale Beziehung ist, ist in Wahrheit nur eine desaströse, auf den Abgrund zulaufende Gemeinschaft. Projektionen sind einfach gefährlich.