Leïla Slimani: All das zu verlieren, Aus dem Französischen von Amelie Thoma, Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 218 Seiten, €22,00, 978-3-630-87553-8
„Was ihn zugleich empörte und faszinierte, war, wie mühelos sie gelogen und dieses Doppelleben geführt hatte. Er ist darauf reingefallen. Sie hat ihn an der Nase herumgeführt wie den letzten Hampelmann.“
Die attraktive Adèle Robinson wohnt mit ihrem Mann Richard und ihrem dreijährigen Sohn im gut situierten 18. Arrondissement in Paris. Er arbeitet als Arzt, sie hat über Beziehungen eine gute Stelle bei der Zeitung. Als Journalistin nimmt sie an Regierungsreisen, z.B. nach Tunesien teil und ist gut beschäftigt. Die fünfunddreißigjährige Protagonistin in Leïla Slimanis Debütroman jedoch ist auf der permanenten Suche nach dem ultimativen sexuellen Kick, nach einer Befriedigung, die sie einfach nicht finden kann. Sie ist geradezu süchtig nach Beachtung, Aufmerksamkeit und Männern, egal wie sie aussehen, wer sie sind. Jedes Mittel bis an die Schamgrenze ist ihr recht, um im Mittelpunkt zu stehen, ob es nun bei Essen mit Freunden ihres Mannes ist oder im beruflichen Umfeld.
Dabei hasst sie die Tatsache, dass sie arbeiten muss, da der Traum vom superreichen Mann und einem Leben in Müßiggang und Dekadenz nicht in Erfüllung gegangen ist.
Allerdings ist Adèle, die kaum isst, dafür um so mehr trinkt und Kettenraucherin ist, an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr genau hinschaut, mit wem sie eigentlich Sex hat. Aids- und Schwangerschaftstests gehören zur wöchentlichen Routine. Ihren Mann begehrt sie schon lang nicht mehr und er sie offensichtlich auch nicht. Richard will unbedingt mit der Familie von Paris aus in die Provinz, in eine großes Haus ziehen und Teilhaber einer Klinik werden. Adèle schiebt diese Entscheidung bis zu dem Moment hinaus, an dem sie nichts mehr zu sagen hat, sie endlich von Richard durch eine große Nachlässigkeit ertappt wird. Davor hatte sie wirklich Angst, ein Gefühl, das sie noch spürt.
Adèles Freundin Lauren versteht nicht, warum Adèle im 21. Jahrhundert nicht das Leben führt, dass sie gern möchte. Ist sie wirklich krank, wie ihr Mann behauptet? Warum hat sie geheiratet, ein Kind bekommen? Wovor sollten Heirat und Mutterschaft sie schützen, ihre Begierden lindern? Was verliert Adèle bei einer Trennung? Ihren Sohn, den sie allein lässt, um sich mit Männern zu treffen?
Als Kind einer genauso egomanischen wie kalten Mutter verdient Adèle etwas Mitleid, und doch trifft jeder Mensch seine eigenen Entscheidungen. Die innere Ödnis, die Leere kann sie nicht füllen, auch der Hass ihres Mannes auf sie und ihre Eskapaden führen letztendlich nur zum Ausbruch.
Der Blick in die seelischen Abgründe und Adèles Suchtverhalten ist nur tragisch, ihr anstrengendes Leben, in dem sie all ihre Eskapaden und sexuellen Obsessionen vertuschen muss, die Spuren beseitigen, ihr Konto überziehen und wieder ausgleichen und ihre Ängste und Paranoia in den Griff bekommen muss. Auch im Job beginnt Adèle zu lügen, sie erfindet Gesprächspartner und kopiert aus Artikeln Passagen zu einem eigenen Text zusammen.
Adèle verkörpert mit ihrem Verhalten die Doppelmoral vieler Gesellschaften, die Wasser predigen und Wein trinken. Doch kann eine Frau in der westlichen Welt nicht zu ihren Wünschen stehen?
Warum sollte Adèle nach einer Trennung ohne ihr Kind wieder bei ihre Eltern wohnen? Warum sieht sie mit ihrem Freiheitsdrang, wie er auch sein mag, die Kleinfamilie als Seelenheil an? Madame Bovary hatte keinen Ausweg, Adèle irgendwie auch nicht und doch ist das im 21. Jahrhundert schwer nachzuvollziehen
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