Lorraine Fouchet: Die 48 Briefkästen meines Vaters, Aus dem Französischen von Katrin Segerer, Atlantik Verlag by Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2019, 299 Seiten, €16,00, 978-3-455-00542-4
„Mein Vater stammt vielleicht von dieser Insel. Ich fühle mich akzeptiert, beschützt, vollständig. Gleichzeitig bekomme ich Panik, weil meine Nachforschungen konkrete Formen annehmen. Plötzlich sind sie real und schwindelerregend. Bis jetzt habe ich mich nur in Vermutungen verloren. Jetzt ist alles möglich.“
Die fünfundzwanzigjährige Chiara Ferrari leidet unter ihrer lieblosen Mutter Livia, die seit der Geburt ihres Kindes ihrem früh verunglückten Mann hinterhertrauert und keine Freude, kein Lachen in ihrem Haus duldet. Sie kann nicht mal ihr eigenes Kind umarmen. Wie aus heiterem Himmel, lässt die Taufpatin von Chiara und Freundin seit Kindertagen, Viola, eine Bombe platzen. Chiara ist gar nicht die Tochter des so schmerzlich vermissten Ehemannes, sondern Ergebnis eines One-Night-Stands auf Elba kurz nach der Beerdigung des Ehemannes. Gelebt habe dieser eigentlich auf der bretonischen Insel Groix und hieße, Viola kann sich nicht mehr erinnern, wie ein Wetterphänomen.
Von Rom aus reist Chiara nun auf die Insel und begibt sich auf die Suche nach ihrem wahren Vater.
Zeitversetzt erzählt Lorraine Fouchet noch eine weitere Geschichte. Im Mittelpunkt steht Charles ( benannt nach Baudelaire), der gemeinsam mit seinem Bruder Paul ( Éluard ), sehr früh die geliebte Mutter, eine Französischlehrerin, verliert. Charles reist ebenfalls auf die Insel, allerdings nennt er sich Gabin und täuscht eine Identität vor, die ganz klar, falsch ist. Ebenfalls wird von einem Louis erzählt, der ohne Medizinstudium auf einer Intensivstation arbeitet und dort auch geschätzt wird.
Chiara und Charles, zwei irgendwie doch verlorene Menschen, lernen sich kennen und fühlen sich zueinander hingezogen. Chiara nimmt den Aushilfsjob als Briefträgerin für eine Woche an und hofft, über die Familiennamen so zu ihren möglichen Vätern zu gelangen. Allerdings kommen nur zwei in Frage und bei ihnen muss sie sich für einen DNA-Abgleich Material besorgen.
Ganz klar, in Lorraine Fouchets geht es um Lebensentwürfe, die voller Tragik sind. So muss Paul durch den frühen Tod seiner Mutter das Bäckerhandwerk erlernen, um seinen Bruder und sich zu ernähren. Charles findet keinen Halt und verfehlt seine Träume vom Medizinstudium, wird vielleicht aber ein guter Autor. Chiara will unbedingt ihren Wurzeln nachspüren und lernt Menschen auf der Insel kennen, die vielleicht viel wichtiger sind als die biologische Herkunft. Chiaras Mutter und ihre Freundin Viola schauen auf unglückliche Leben zurück, die beide selbst verschuldet haben.
„Livia will mich nicht berühren, weil meine Existenz sie daran erinnert, dass sie ihren verstorbenen Ehemann betrogen hat. Ich bin ein Vorwurf auf zwei Beinen.“
All das klingt so tragisch und doch liest sicher dieser Roman locker leicht und ist für einen Tag am Strand, ob in der Bretagne oder anderswo, ein absolutes Highlight.
Zumal nicht nur die literarischen Figuren zum Leser sprechen, sondern auch Briefkästen und Buchhandlungen.
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