Nele Neuhaus: Muttertag, Ullstein Verlag, Berlin 2018, 556 Seiten, €22,00, 978-3-550-08103-3
„Ihr Aussehen spielt für mich nie eine Rolle. Nur ihre Taten. Diese hier hat ihrem Kind immer wieder versprochen, es zu sich zu holen, und es nie getan. Genau wie meine Mutter es mit mir gemacht hat.“
Immer am Muttertag ließ sie sich feiern, Rita Reifenrath, die Frau, die so viele Pflegekinder in ihr großzügig geschnittenes Haus mit Garten und Pool aufgenommen und sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten hatte. Wie es jedoch hinter der Fassade aussah, das wussten nur die Pflegekinder, die in den 20 Jahren bei ihr und ihrem Mann Theo lebten. Die Ehe der beiden beruhte auf einem unbändigen Hass, sie unterdrückte und verachtete ihn und er manipulierte die Jungen und erzählte ihnen, er sei ihr Vater, aber das ist ein Geheimnis. Als die Tochter der beiden an einer Überdosis Heroin verstarb, nahmen sie ihren Enkelsohn Fritjof zu sich. Mit drastischen wie brutalen Mitteln und Psychoterror „zähmte“ die Pflegemutter ihre „Kinder“, die verhaltensauffällig waren und niemand adoptieren wollte. Bis zu zehn Kindern lebten in ihrem Haushalt im Taunus und zwischen ihnen herrschte ebenfalls eine gnadenlose Hackordnung, die durch Fritjofs Sonderstellung und die seines engen Freundes, Joachim Vogt, noch befeuert wurde. Wenn ein Kind dann mal wagte, außerhalb des Hauses etwas zu sagen, dann glaubte niemand seinen Worten.
Diese Geldquelle für die Pflegekinder funktionierte für die Reifenraths bis Rita sich angeblich nach einem Eklat mit erwachsenen Pflegekindern am Muttertag depressiv das Leben nahm. Besonders verhaltensauffällig als Jugendlicher war Claas Reker. Rita verabscheute ihn, wohingegen Theo ihn für sich einnahm. Reker entwickelte sich als Erwachsener zu einem eifersüchtigen Psychopathen, der seine Frau täuschte, manipulierte, belog, bedrohte, stalkte und nun wieder auf freiem Fuß ist.
Als Pia Sander und Oliver von Bodenstein von der K11 Hofheim zum Haus des nun 84-jährigen Theo Reifenrath gerufen werden, ist dieser bereits seit zehn Tagen tot. Einer seiner letzten Besucher war Reker. War es ein Verbrechen? Immerhin ist das Auto verschwunden, die Wohnung wurde durchsucht und Geld verschwindet vom Konto. Es stellt sich heraus, dass Theo offenbar eines natürlichen Todes gestorben ist, doch auf seinem Grundstück findet die Polizei drei verscharrte Frauenleichen und letztendlich die Leiche von Rita Reifenrarth.
Neben den in kursiver Schrift gehaltenen Gedanken des Täters wird auch die Geschichte der zweiundzwanzigjährigen Fiona Fischer erzählt. Sie erfährt nach dem Krebstod der Mutter, die sie zwei Jahre lang gepflegt hatte, dass sie nicht ihr leibliche Mutter war. Auch der angebliche Vater ist ein Fake. Fiona beginnt nach ihrer wahren Mutter zu forschen und begibt sich, ohne es zu ahnen, in gefährliche Gefilde.
Immer mehr Frauenleichen tauchen auf, die nach dem gleichen Prinzip langsam zu Tode kamen. Sie wurden in Folie eingewickelt, ertränkt und in eine Kühltruhe verfrachtet. Dann landeten sie entweder bei Theo im Garten oder wurden einfach irgendwo abgelegt. Der Täter behält nach jedem Mord eine Trophäe, einen Autoschlüssel, Haarsträhnen oder Ketten.
Für die Kommissare, die sich einen amerikanischen Profiler als Hilfe holen, steht fest, eines der Pflegekinder muss der Täter sein, denn diese perfide Lust am Quälen hatte dieser von der eigenen Pflegemutter gelernt und ahmt sie nun nach. Auffällig ist auch, dass jeder Mord am oder kurz nach dem Muttertag geschehen ist.
Unendlich viel Ermittlungsarbeit summiert sich bei letztendlich elf Morden und Pia Sander kann nicht ahnen, dass sogar ihre Schwester Kim auf der Liste des Psychopathen steht.
Dass Kinder, die weder Zuneigung noch Fürsorge erlebt haben, vom Jugendamt in die Hände von frustrierten und sadistischen Menschen gegeben werden, ist keine Erfindung der Autorin, sondern traurige Wirklichkeit. Wie sich diese ständige Angst, dieses auf der Hut sein, diese Panik vor Ärger entweder von der Pflegemutter oder den eigenen „Geschwistern“ auf die Psyche ausgewirkt hat, können sich die Polizisten kaum vorstellen.
Der Mörder, der sich selbst zum Vollstrecker von Frauen erkoren hat, die ihre Kinder einfach so fortgegeben haben, ist hochintelligent, ein völlig emotionsloser Perfektionist und ein unauffälliger Zeitgenosse, der in Arbeit und Brot steht.
Nele Neuhaus geht sehr in die Details, sie beschreibt die Milieus, aus denen die Frauen kommen, sie begibt sich mit ihren Kommissaren auf kleinteilige Spurensuche und karikiert sogar die Krimi schreibende Zunft. Leider geraten die Figuren bei Nele Neuhaus immer leicht holzschnittartig, das mag dem Genre geschuldet sein, und doch verliert sie nie den spannenden Handlungsfaden aus den Augen, fesselt den Leser durch das Leid der missbrauchten und lebenslang geschädigten Kinder. Sie hält alle Bälle in der Luft und lässt sie erst am Ende fallen, wenn der Leser beruhigt das Backstein dicke Buch schließt.
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