Gila Lustiger: Woran denkst du jetzt, Berlin Verlag, Berlin 2011, 160 Seiten, €18,95, 978-3-8270-1017-9
„Ihr ganzes Leben hatte sie aus den Schranken auszubrechen versucht, in die sie ihr Onkel verwiesen hatte.“
Paul Bergmann ist ein starker Mensch. Doch am Ende seines Lebens soll der Krebs ihn zerstören und hilflos werden lassen. Bevor es soweit ist, verlässt er das Krankenhaus, zieht bei seiner Schwester ein und „konfisziert“ sein Haus. Er hatte es einst seiner Schwester und seinen beiden Nichten Lisa und Tanja nach der Scheidung zur Verfügung gestellt. Seine Frau Anne ist nach 34 Jahren Ehe offenbar nicht die richtige Pflegerin. Oder gibt es einen ganz anderen Grund? Die Handlung des Romans setzt mit dem Tod des charismatischen Onkels ein. Er ist der Dreh- und Angelpunkt in allen Gesprächen der sehr unterschiedlichen Schwestern, die nun mittlerweile auf die Mitte 30 zugehen.
Immer noch konkurrieren die beiden Frauen um die Gunst des Onkels. Tanja kränkt es, dass der Onkel in der Zeit der Krankheit sich auf Lisa gestützt hat. Lisa leidet immer noch darunter, dass der Onkel nie seine Enttäuschung verbergen konnte, dass sie nicht Schauspielerin geworden ist. In den langen Gesprächen hadern beide Frauen mit ihrem vergangenen und gegenwärtigen Leben. Lisa taumelt von einem Freund zum anderen, ist die Verständnisvolle, die als Therapeutin ihr Helfersyndrom ausleben kann. Tanja, die Rationale, arbeite als Wirtschaftsfachfrau, klettert die Karriereleiter empor, hat ein Kind und lebt in einer stabilen, faden Ehe. Lisa jedoch verachtet Tanjas Ehemann, der sich eher für Tennis als den Welthunger interessiert.
In Rückblenden erinnern sich die beiden an Szenen mit dem oftmals sarkastischen, wie auch dünkelhaften Onkel, der die beiden Mädchen nach der Scheidung maßgeblich beeinflusst und erzogen hat. Er liebte die schönen Dinge des Lebens und wollte seine Maßstäbe auf die Mädchen übertragen. Sie sollten etwas Besonderes leisten und beide haben sich in diese Rolle hineingesteigert und um Anerkennung gebuhlt. Hat die ewig klagende Mutter der beiden in jeder Hinsicht versagt, so sollten sie doch etwas werden.
Woran denkst du jetzt? Das ist die Frage, mit der sich die Schwestern gegenseitig provozieren, sich aus der Reserve locken und Geheimnisse preisgeben. Bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Verlust des trotz aller Reibereien geliebten Onkels spült diese Frage Verschwiegenes an die Oberfläche.
Sah Tanjas Zukunft in den USA an der Seite eines weit älteren Professors glorreich aus, so scheiterte doch diese Ehe. Wenn Tanja auf ihre Kindheit zurückschaut, dann sieht sie nur einen Scherbenhaufen. Sie übernahm für die Mutter und die jüngere Schwester viel zu viel Verantwortung und hasst es, sich für ihre Korrektheit zu verteidigen.
Auch wenn die beiden Schwestern sich immer tiefer in ihre Familienkonflikte vertiefen, so schaffen sie es doch, sich auf einer bestimmten Ebene wieder streitlos zu begegnen. „Keiner ist so, wie man denkt.“ ist Tanjas abschließendes Resümee und damit offenbart sie den Kern dieser Familiengeschichte.
Gila Lustiger hat einen fesselnden, unterhaltsamen Roman geschrieben, der auf eine intime, auch komische Weise dem Leser Einblicke in die Gedanken der Geschwister gibt, die miteinander reden können. Der Mensch, der ihrem Leben Halt gegeben hat, ist und das ist am schmerzlichsten zu verkraften, auf banale Weise gestorben. Die Auseinandersetzung mit dem Onkel und dem eigenen Leben stößt an Grenzen, die zu überwinden sind.
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