Charlotte Link: Die Suche, blanvalet bei Random House, München 2018, 654 Seiten, €24,00, 978-3-7645-0442-7
„Ja, dachte Kate auf ihrem Sofa, das ist es. Sie sind dicht dran, einen Kerl zu schnappen, der Amelie wahrscheinlich über kurz oder lang umgebracht hätte – er hätte sie schließlich nicht wieder laufen lassen können, nachdem sie sein Gesicht gesehen hatte. Einen Kerl, der möglicherweise Saskia Moris auf dem Gewissen hatte. Vielleicht auch Hannah Caswell. Vielleicht noch mehr Mädchen, die man bislang noch nicht in einen Zusammenhang mit den anderen gebracht hatte. Es muss Caleb verrückt machen, dass Amelie nicht redet.“
Der November in Scarborough ist kühl und regnerisch. Detektive Sergeant Kate Linville kehrt aus London in ihren Heimatort zurück, um nach dem möblierten Haus ihres ermordeten Vaters zu sehen. Mit Schrecken muss sie feststellen, dass das Paar, an das sie das Haus vermietet hatte, ein Chaos hinterlassen hat. Alle Zimmer sind völlig verdreckt, vollgeschüttet mit Müll und Fäkalien. Ein Alptraum. Kate kann nichts mehr retten, nur noch das Messi-Paar anzeigen. Ein Firma muss das Haus ausräumen und renovieren.
Für Kate ein Grund mehr Scarborough den Rücken zu kehren, obwohl sie kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, doch auf Detective Chief Inspector Caleb Hales Angebot einzugehen und sich um Stelle vor Ort zu bewerben. Niemand in London würde der einsamen, unattraktiven Frau eine Träne nachweinen, denn die Kollegen bei Scotland Yard habe sie eher gemieden als mit ihr zusammen gearbeitet. Dabei ist Kate eine gute Polizistin und das wird sie auch wieder beweisen müssen, denn seit einiger Zeit verschwinden Mädchen im Alter von 14 und 15 Jahren. Als Kate vorübergehend bei Deborah Goldsby in ihr kleines Bed & Breakfast einzieht, wurde gerade die Leiche von Saskia Morris in den Hochmooren gefunden. Nur wenige Stunden später verschwindet dann auch Deborahs Tochter Amelie.
Mutter und Tochter haben ein extrem schlechtes Verhältnis, denn die Tochter verweigert sich allem, was die Eltern für richtig halten. Vielleicht mag das in der Pubertät das Schicksal vieler Eltern sein, aber bei der renitenten Amelie ist es schon extrem.
Der Leser weiß allerdings noch mehr. Gleich zu Beginn wurde ihm von Hannah Caswell erzählt, die wiedermal ihren griesgrämigen Vater enttäuscht und nicht pünktlich am Bahnhof sein wird. Aus Wut sagt er zu seiner schüchternen Tochter, sie solle sehen, wie sie nach Hause kommt. Offenbar steigt sie in das falsche Auto ein. Doch zu wem? Was ist mit ihrer Mutter, die sie vor zehn Jahren verlassen hat? Lebt sie wirklich in Australien?
Kate Linville trifft natürlich, da sie ja bei Deborah wohnt, auf Caleb Hale. Er unterrichtet sie immer wieder über die Fälle mit den verschwundenen Mädchen und weiß, dass Kate ihre Füße nicht still hält und anfängt zu ermitteln. Denn, oh Wunder, Amelie kann sich dem Entführer entziehen. Bei ihrer lebensbedrohlichen Fluchtaktion wird sie von zwei Männern gerettet. Deborahs Eltern sind überglücklich und dem Lebensretter ihrer Tochter, Alex Barnes, verpflichtet. Dieses Gefühl jedoch steigert sich im Laufe der Zeit zu einer immensen Abneigung, denn Barnes ist arbeitsscheu, hatte nie eine Ausbildung und benötigt ständig Geld und die Anerkennung von Deborah. Trotz längerer psychologischer Betreuung und der Vorstellung, dass Amelie den Entführer gesehen hat, kommt die Polizei nicht weiter. Und dann stellt sich heraus, dass noch ein Mädchen spurlos verschwunden ist. Mandy ist von Zuhause fortgelaufen, weil sie nach einem Streit mit ihrer Mutter, die sie auch noch verletzte, die Nase voll hatte. Das Jugendamt forscht nach und weiß nun, seit einer Woche weiß niemand, wo das Mädchen ist.
Spannend an dieser atemberaubend temporeichen Geschichte, die sich immerhin über 654 Seiten zieht, sind die einzelnen Personen und ihre Lebensentscheidungen. Niemand, einschließlich der Ermittler und Polizisten, scheint glücklich zu sein. Die Ehen kriseln, weil die finanziellen Belastungen zu hoch sind, die Menschen sind einsam, alkoholabhängig, gelangweilt und immer auf der Suche nach einem sinnvollen Lebensinhalt.
Klar ist, derjenige, der sich an den Teenagern vergeht und sie einfach verhungern lässt und später entsorgt, kann nicht von dieser Welt sein. Caleb Hale tappt im Dunkeln, zumal sich herausstellt, dass Amelie gar nicht entführt wurde und sie und der einundreißigjährige Barnes die Polizei angelogen hatten. Kates Suche konzentriert sich auf die Vergangenheit der einzelnen Angehörigen der Mädchen und wird fündig. Doch da sitzt sie bereits eingesperrt in einem alten Haus und kann sich nicht befreien.
Absolut spannend, zutiefst abgründig und so grau wie die Tage im November ist dieser Thriller, der wenig Hoffnung auf ein erfülltes Leben aller Beteiligten lässt.
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