Tracy Chevalier: Der Neue, Aus dem Englischen von Sabine Schwenk, Knaus Verlag, München 2018, 192 Seiten, €18,00, 978-3-8135-0671-6
„Irgendwie wirkten Afrikaner auf Weiße weniger bedrohlich. Natürlich nicht immer. Doch er spürte bei den Weißen schon eine gewisse Angst vor den schwarzen Amerikanern, die wiederum Wege fanden, diese Angst zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wahrscheinlich der einzige Vorteil, den sie hatten.“
1974, Washington: Plötzlich steht er da, Osei Kokote, ein schwarzer neuer Schüler, der aus Ghana stammt. Dee Benedetti ist fasziniert von dem Jungen und fühlt sich zu ihm hingezogen. Als ihr strenger Lehrer sie als seine Lieblingsschülerin auch noch bittet, sich um ihn zu kümmern, freut sie sich. Osei, der die Prügel anderer Schüler gewohnt ist, ist der einzige Farbige in der Schule. Er kennt diesen Moment als Neuer ganz genau, immerhin war er schon mit den Eltern, der Vater ist Diplomat, in Rom, London und New York. Im Hintergrund beobachtet auch Ian den neuen Mitschüler. Ian ist der ungekrönte König auf dem Schulhof, dank seiner älteren Brüder weiß er, wie man jüngere Schüler abzockt und Angst verbreitet. Niemand respektiert Ian, alle fürchten sich vor ihm. Auch Mimi, die beste Freundin von Dee, fühlt sich von Ian in die Enge gedrängt, als er ihr einen brutalen Kuss aufdrückt. Die langsam erwachende Sexualität wabert in der Vorpubertät in den Köpfen der Kinder. Bloße Andeutungen entfachen Wut und Ärger in der 6. Klasse. Dabei sind die Paarspielchen der Jungen und Mädchen von kurzer Dauer. Blanca, ein lautes Mädchen, deren Weiblichkeit einfach schon offensichtlich ist, und Caspar, der gutaussehende Junge, den alle mögen, sind pausenlos zusammen und wieder getrennt.
Doch zwischen Dee und Osei entfacht eine ganz natürliche Zuneigung, völlig fern von der Frage, willst du mit mir gehen oder nicht. Eigentlich sind die Mädchen untereinander spinnefeind und die Jungen Amateure, wenn es darum geht, fies zu sein, aber bei Shakespeare / Chevalier verdrehen sich die Geschlechterrollen. Ian, der auf dem Schulhof der Anführer beim Kickball ist, glaubt, dass der sportliche Osei ihm gefährlich werden könnte und so spinnt er ein perfides Szenario, um den Neuen eifersüchtig und wütend auf Dee zu machen.
Aus verschiedenen Perspektiven, mal aus Dees, dann wieder aus Oseis und Ians Sicht erzählt Tracy Chevalier in dialogischer Sprache ihr Othello-Drama psychologisch genau vor dem Hintergrund des Vietnam Krieges und des Rassismus in den USA. Der Leser spürt die Anspannung und die drohende Katastrophe, das auf Dee und Osei ohne Erbarmen zusteuert. Die Lehrer greifen pflichtschuldig in die entstehenden Konflikte ein, offenbaren aber gleichzeitig ihre Vorurteile und ihren tiefen Hass gegen schwarze Menschen. Osei wird mit seinen inneren Konflikten und Zweifeln völlig allein gelassen, er kann das Rängespiel gegen ihn nicht durchschauen und er kann nicht die Kraft aufbringen, Dee zu glauben.
Tracy Chevalier versucht in ihrer Othello-Neuerzählung, die nur an einem Tag spielt, zu zeigen, dass Kinder ihren eigenen Gefühlen, fern jeglicher gesellschaftlichen Beeinflussung, noch vertrauen. Dee und Osei berühren sich in aller Unschuld und sehen aus wie „eine Skulptur sich Liebender“. Wenn die Lehrer die beiden auseinandertreiben und ihnen vermitteln, sie hätten etwas Ungehöriges getan, kann das Unheil seinen Lauf nehmen.
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