Kirsten Boie: Ein Sommer in Sommerby, Oetinger Verlag, Hamburg 2017, 320 Seiten, €10,99, 978-3-96052-050-4
„Sie hat einen liederlichen Haushalt, und sie lässt ihre Enkel Sklavenarbeit machen, und zu kleinen Kindern ist sie grausam, denkt Martha. Komisch, dass es trotzdem ganz schön hier ist.“
Die zwölfjährige Martha und ihre beiden kleinen Brüder müssen von einem Tag zum anderen in diesem Sommer zu Oma Inge, zu einer fremden Frau, die sie noch nie gesehen haben. Warum Marthas Mutter, die nun in New York im Krankenhaus liegt, mit ihrer Mutter keinen Kontakt hat, wissen weder Mikkel, noch Mats noch Martha. Von Hamburg aus fahren die Kinder mit der besten Freundin der Mutter zur Oma, die auf einer einsamen Landzunge weit entfernt von der Stadt Sommerby wohnt. Nicht gerade begeistert schaut die Oma, die sogar mit einer Flinte bewaffnet ist, als die vermeintlichen Eindringlinge auf ihrem Grundstück stehen. Ruppig ist die Oma, burschikos und direkt.
So müssen die Kinder am ersten Abend ihre Pellkartoffeln selbst mit einem Messer schälen. Martha, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, ist erbost über die Kinderarbeit, die hier eingefordert wird. Als sie dann auch noch bemerkt, dass in Omas altem Haus weder ein Internetanschluss, noch ein Telefon oder ein Fernseher zu finden ist, sinkt die Stimmung. Martha muss weit auf die Wiese hinauslaufen, um endlich einen Handyempfang zu haben. Sie will doch endlich von Papa erfahren, wie es der Mama geht. Mikkel und Mats jedoch stört das alles nicht, sie lieben die Hühner, Gänse und den Kater. Sie pflücken mit der Oma Himbeeren oder Erdbeeren und später dann Sauerkirschen. Oma Inge verdient ihr Geld mit dem Verkauf von selbstgemachten Marmeladen und Weihnachtsgänsen, was zu erheblichen Komplikationen mit dem harmoniesüchtigen Stadtkind Mikkel führen wird. Dabei hat die Oma natürlich recht, wenn sie klar sagt, dass Tiere auch dazu da sind, dass man sie isst. Eine Bilderbuchoma ist Oma Inge auf keinen Fall, sie verjagt die süßen Rehe im Garten und beseitigt die Nacktschnecken. Aber das Leben bei der Oma ist voller Abenteuer, zumal ein mieser Maklertyp ständig versucht, der Oma ihr Land abzuschwatzen, mal mit Schmeicheleien, mal mit Drohungen.
Die Kinder jedenfalls genießen die Natur, das Meer und die Geschichten am Abend, die Martha den Jungen, um die sie sich ja kümmern soll, vorliest. Als die Oma an einem Hexenschuss leidet, fahren die drei sogar allein mit dem Boot zum Dorf, um dort die Marmeladengläser zu verkaufen. Nie hätten ihre Eltern das erlaubt und noch nie hat ihnen jemand so viel zugetraut, wie die Oma. So macht sie sich keine Sorgen darum, ob Mats mit seinen vier Jahren nicht ins Wasser fallen könnte. Sie gibt den Kindern Messer in die Hände, Martha darf Boot fahren und sogar mit der Sense im Garten arbeiten und Mikkel hilft der Oma, wo er nur kann, auch wenn die Hühnereier voller Kacke sind.
Keines der Kinder hätte je geglaubt, dass die Sommerzeit bei der Oma, die keine Gutenachtküsse verteilt, keine Naschis im Schrank hat, sich aber entschuldigt, wenn sie einen Fehler gemacht hat, so fantastisch sein könnte. Martha erkennt, dass ihre Freundin Isolde vielleicht die größten Abenteuer auf den Malediven erlebt, aber ihr Sommer zu Hause ist genauso wunderbar, auch wenn sie ihn nicht pausenlos posten kann und will. Natürlich klärt sich noch, warum es von Oma Inges Haus keinen Weg mehr in Richtung Sommerby gibt und die Tochter und der Schwiegersohn den Kontakt zu ihr abgebrochen haben.
Kirsten Boie konstruiert in ihrer spannenden Sommergeschichte ein überzeugendes Gleichgewicht vielleicht eher für die Eltern zwischen den aktuellen Themen unserer Zeit, die da sind Überbetreuung der Kinder versus Freiheit, Nutzung digitaler Medien versus Wertefragen. Können sich Kinder einen Tag ohne Fernsehen, Tablet oder Smartphone nicht mehr vorstellen, so zeigt diese unterhaltsame Geschichte, wie leicht die Tage auch ohne den elektrischen Kram und sogar Buntstifte vergehen. Wie gut es ist, wenn nicht jederzeit ein besorgter Erwachsener neben Kindern steht und jemand ihnen auch mal etwas zutraut. Kinder müssen nicht in Watte gepackt werden, sie können mithelfen, Anteil nehmen und lernen, wie das wahre Leben wirklich funktioniert. Sie können Geschichten lesen und sich ihre eigenen Gedanken machen. Und sie können verstehen, dass Menschen an ihrem Zuhause hängen und es auch für siebenstellige Beträge nicht hergeben.
Kirsten Boie findet genau das richtige Maß, sie erzählt für Kinder immer im Rahmen ihrer Vorstellungskraft, nichts wird unnötig dramatisiert oder verdammt und doch bleibt es aufregend, sogar der Alltag.
Wie in jedem guten Kinderbuch rundet sich die Geschichte am Ende zum Guten hin ab und das muss auch so sein. Aber die Beschreibung der Tage und Wochen bei Oma Inge sind voller Kanten und Konflikte, die ausgetragen werden und den Kindern die Augen über vieles öffnen, was sie ohne ihre Oma nie erfahren hätten.
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