Jen White: Als wir fast mutig waren, Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister, Carlsen Verlag, Hamburg 2017, 318 Seiten, €14,99, 978-3-551-55680-6
„Thema Dad beendet. Und seit Mom gestorben war, war überhaupt nichts Gutes mehr passiert. Außer Billie. Dass es sie gab, war das einzig Gute. Und Mom hatte recht. Dad war ein Hai, aus der Ferne interessant zu beobachten, aber komm ihm lieber nicht zu nah, sonst wird es dir leidtun.“
Für die achtjährige Billie und die zwölfjährige Liberty, sie ist auch die Erzählerin der Geschichte, bricht eine Welt zusammen als ihre Mutter bei einem Unfall stirbt. Vorübergehend wohnen beide Kinder bei Julie, einer Freundin der Mutter. Sie benachrichtigt Sam, den Vater der Kinder, der als Fotograf durch die Welt reist und sich nie um die Mädchen gekümmert hat und sie zuletzt vor sechs Jahren gesehen hat. Liberty schreibt gern ihre Gedanken in ihr Notizbuch und sie beschäftigt sich mit dem Verhalten der Tiere, auch weil der abwesende Vater oft Tiere für National Geographic fotografiert hat.
Die erste Begegnung mit Sam verläuft steif, denn er scheint nicht gern zu reden. Er nimmt die Mädchen von Kalifornien aus in seinem Camper auf eine Sommertour Richtung Arizona mit. Wochen später hält er an einer Tankstelle und lässt die Kinder einfach zurück.
An dieser Stelle beginnt die Romanhandlung, die nun Schritt für Schritt dem jungen Leser aufzeigen wird, wie die Kinder, die gar nicht wissen, wo sie eigentlich sind, sich ohne Geld, Klamotten, Getränke oder Essen und völlig alleingelassen auf den Weg nach Hause begeben müssen. Zu Beginn erzählt Liberty, die wie immer die Verantwortung für ihre Schwester übernimmt und deren Tobsuchtsanfälle kennt, dass ihr Vater sicher gleich zurückkehrt. Die enorme Hitze setzt den Mädchen zu, der Tankwart wird misstrauisch und holt die Polizei. Damit dem Vater nichts geschieht und voller Misstrauen klettern die Kinder in einen fremden Wagen und fahren eine Strecke erstmal heimlich mit.
Liberty vergleicht immer wieder das Verhalten der Erwachsenen mit dem der Tiere und erzählt Billie von allem. So legt die Meeresschildkröte ihre Eier am Sandstrand ab und erwartet, dass die geschlüpften Kinder ihren Weg allein gegen alle Gefahren ins Meer finden. So fühlt sich Liberty, die feststellen muss, dass sie Julie weder auf dem Festnetz und noch auf dem Handy erreichen kann.
In Gedankenströmen erinnert sich Liberty an die Zeit mit dem Vater, von dem sie gehört hatte, er sei ein Mensch, der irgendwie eine dunkle Seite habe, der lieber allein ist, ein Eigenbrötler. Zu Beginn geht er entspannt mit den Kindern um. Doch nach einer bestimmten Zeit vergisst der oft gereizte und wütende Sam, dass er sich um die Kinder, die sich ohne Fernseher und Beschäftigung einfach nur langweilen, kümmern muss. Er konzentriert sich auf seine Arbeit, redet nicht und kauft auch nicht ein. Als die Mädchen aus Versehen seine Fotos und seine teure Kamera beschädigen, schlägt er zu.
Die Mädchen begegnen nun auf ihrer hilflosen Reise Menschen, die ihnen ohne es zu ahnen, helfen und wieder anderen, die ihnen auch schaden, ohne zu wissen, dass sie allein sind.
Um es vorwegzunehmen, es wird nichts Schlimmes passieren, aber der Leser ist auf der Hut. Die Mädchen werden in eine Prügelei hineingezogen und sie werden sich durch ihre Tierliebe verletzen, aber das ist vielleicht auch ihr großes Glück.
Spannend erzählt die amerikanische Autorin in ihrem Debüt von einer engen Geschwisterbeziehung, die auch durch das Leben mit der Mutter, die viel arbeiten musste, immer mehr gewachsen ist. Liberty wird am Ende der Geschichte nicht mehr in ihre alten Sachen, die Julie mitbringen wird, hineinpassen. Aber das Mädchen ist nicht nur gewachsen, es hat auch einen Teil seiner kindlichen Unschuld verloren.
Wunderbar anschaulich sind die Tiergeschichten, die Liberty beisteuert und die nicht nur für Billie interessant sind.
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