Melanie Raabe, Die Wahrheit, btb Verlag, München 2016, 448 Seiten, €16,00, 978-3-442-75492-2

„Wir sehen einander an, aber wir erkennen einander nicht.“

Die Erinnerung kann trügerisch sein, sie kann die Sinne verwirren, sie kann glasklar sein und doch nicht stimmen. Als Sarah Petersen ihren Mann nach sieben Jahren endlich wiedersieht, ist sie felsenfest der Meinung, dass der Mann, der sich in ihrem Haus eingenistet hat, ein Fremder, ein Betrüger ist. Aus den Perspektiven von Sarah und der ihres angeblichen Mannes Philipp erzählt Melanie Raabe diesen Thriller über Identitätsverlust und falschen Bildern aus der Vergangenheit. Geschickt führt sie den Leser an der Nase herum und legt ständig Fallen aus, in die man beim Herumrätseln ahnungslos hineintappt.

Sarah lebt zurückgezogen, nur sich ihrer Arbeit als Lehrerin widmend, in ihrem großen Hamburger Haus mit ihrem Sohn Leo, der nun mittlerweile acht Jahre alt ist. Als Philipp, er ist der Vermögende, die Familie verlässt, um seine fünftägige Reise nach Südamerika anzutreten, ist nicht ganz klar, was wirklich seine Absichten sind. Will er Sarah verlassen? Ist beider Ehe an einem Punkt angelangt, an dem man sich nur noch streitet, demütigt oder wehtut?

Aus Sarahs Sicht nach all der langen Zeit des Wartens, scheint es so, als wäre Philipp immer ihre große Liebe gewesen. Seit kurzem hat sie sich zwar auf Mirko, einen Kollegen aus der Schule, eingelassen, aber nicht mit allen Sinnen.

Und dann kommt der Anruf. Philipp kehrt zurück. Als Geisel wurde er in Kolumbien festgehalten. Doch als Sarah ihren Mann auf dem Flughafen im Blitzlichtgewitter der Fotografen sieht, weiß sie ganz genau, dass diese Person niemals Philipp sein kann. Der verschollene Unternehmersohn Petersen war medienscheu. Es gab kaum Fotos von ihm. Wer könnte ihn identifizieren? Seine demente Mutter? Als diese ihren Sohn sieht, behauptet sie, er sei tot und ihre geldgeile Schwiegertochter habe ihn ermordet.

Sarah ist verzweifelt, sie bringt den Sohn zu einer Freundin und geht doch nicht zur Polizei. Sie lebt in der Angst, dass dieser Mann sie in den Abgrund ziehen könnte, ihr das Kind wegnehmen.

Sarahs Hilflosigkeit lähmt sie nur kurzzeitig, schnell sucht sie nach Möglichkeiten, den Fremden bloßzustellen, der einem Gentest, ohne mit der Wimper zu zucken, zustimmt.

Die Spirale der Anfeindungen, auch Philipp fühlt sich nicht als der vorgebliche Ehemann dieser Frau, nimmt auf beiden Seiten zu. Auch der Leser, und das macht den Reiz dieses Thrillers aus, kann nicht erkennen, worauf diese Geschichte hinausläuft. Zumal ein seltsames Ereignis aus der Vergangenheit des Ehepaares Petersen ans Tageslicht gelangt und erneut die Schuldfrage gestellt wird. Aber es gibt noch eine existentielle Frage, die den Fremden umtreibt. Er will die Wahrheit von Sarah hören. Doch welche, Sarah kennt keine Antwort und weiß nicht, was er meint und schon reden beide wie so oft in diesem Roman aneinander vorbei. Hier hätte man auch den Rotstift ansetzen können, denn der Spannungsbogen könnte wirklich kürzer sein.

Trotzdem – psychologisch spannende Lektüre über eine Ehe, eine qualvolle Trennung und ein noch qualvolleres Wiedersehen.