Ule Hansen: Neuntöter, Heyne Verlag, München 2016, 496 Seiten, €16,99, 978-3-453-43804-0
„Für sie war der Täter ein Puzzle. Sie hatten jetzt fleißig Teile gesammelt, aber noch nicht alle beisammen, nie waren alle beisammen, doch vielleicht schon die wichtigsten, sie lagen gleichberechtigt nebeneinander vor ihren Augen, und nun mussten sie versuchen, sie zu verbinden.“
Emma Carow, erfahrene Berliner Fallanlytikerin beim LKA 1 mit fehlender Sozialkompetenz, die bei Serienmördern zur Höchstform aufläuft, ist nicht gerade im Umgang mit ihren Kollegen diplomatisch. Sie hält sich nicht gern in ihrer Wohnung am Gleisdreieckpark auf und am liebsten ist sie am Tatort allein.
Und Emma trägt ein jahrelanges Geheimnis mit sich herum, dass nun ans Tageslicht kommen wird. Ihr Peiniger und Vergewaltiger wurde aus der Haft entlassen und hat ein Buch geschrieben, dass er ihr gleich zugesandt hat. Nun pendelt er von einer Talkshow zur nächsten und Emma leidet. Nach wie vor kann sie nicht fassen, dass sie auf sein angenehmes Äußeres hereingefallen ist. Die tiefe Demütigung und Erniedrigung hat sie nicht nur psychisch, sondern auch körperlich gezeichnet. Zu gern würde sie sich an ihm rächen, findet aber bisher nicht die Kraft.
Und noch eine Baustelle muss Emma bearbeiten. Ihr wurde ein neuer Ermittler zur Seite gestellt, Felix Schreiner. Der Vater von einjährigen Zwillingen konkurriert mit ihr um die Chefstelle der Abteilung. Die hochschwangere Karen Brennemann, beider ziemlich emotionslose Vorgesetzte, muss in den Mutterschutz gehen, obwohl sie sich einfach nicht von der Arbeit trennen kann. Tuff wie sie ist, hat sie aber auch Angst, dass sie ein Mädchen bekommen könnte. Mit Jungen kann sie einfach besser und eine Helikoptermutter wird sie garantiert nicht.
Familienleben scheint bei den Frauenfiguren nicht so angesagt, aber im neuen Fall wird dieses Thema alle beschäftigen.
Per Zufall findet ein kletterfreudiger Junge hinter riesigen Werbeplakaten drei „Aliens“, d.h. zwei junge Frauen und ein bereits älterer Mann wurden in silberne Klebefolie mit einem Brett im Rücken eingewickelt und aufgehängt. Nur die Augen wurden freigelassen, der Mund verklebt. Ein grausiger Fund, zumal diese Menschen und es werden noch weitere folgen, nicht direkt getötet wurden, sie sind verdurstet.
Emma schlussfolgert, dass der Primärtäter mit seinen Helfershelfern, allein kann ein Mensch diese Taten nicht vollbringen, nicht am Töten interessiert war.
Ärgerlich an der operativen Fallanalyse ist, dass Emma und ihre Kollegen immer auf die Daten von den Ermittlern warten müssen. Erst dann kann Emma beginnen, sich Gedanken über das Profil der Täter zu machen.
Ausführlich erklärt das Autorenduo, Astrid Ule und Eric T.Hansen, dieses absolut spannenden Plots, von der Vorgehensweise der Fallanalytiker, der Skepsis der Ermittler und vor allem der Treffsicherheit ihrer Voraussagen, die sich nur auf Gedankenkonstrukten und Vermutungen stützen. Ziemlich rüde ist die Sprache der Polizisten untereinander und was die Opfer und möglichen Verdächtigen angeht auch nicht gerade fein. Alle Opfer verbindet offensichtlich Missbrauch in der Kindheit. Doch was wollten die Täter? Wollten sie etwas inszenieren, wollten sie auf etwas hinweisen oder wollten sie einfach nur wie der Vogel, der Neuntöter, die Beute aufhängen?
Ein Foto aus der Zeitschrift Stern aus den 1980er Jahren klärt zumindest eine Frage.
Die eingepackten Mumien waren alle verkleidet und sie führten Lebensmittel mit sich, die sie allerdings nicht erreichen konnten. Die Sachen, die die Täter ihnen angezogen haben, gleichen denen auf dem Foto. Inszeniert wurde, laut Emmas Analyse, die heile Familie – Vater, Mutter, Tochter und Sohn. Nach und nach wird den Ermittlern klar, es ist nicht nur eine Familie, sondern es sind drei. Fieberhaft sucht die Polizei, jetzt auch mit Hilfe der Öffentlichkeit, nach stillgelegten Orten, in denen Leichen hängen könnten.
„Früher hätte sie sich übergeben. Allein der Gestank. Und diese Gesichter. Nimm einem Menschen einen Arm weg, und er ist noch ein Mensch. Nimm ihm die Beine weg. Aber das Gesicht. Wenn das Gesicht nur noch ein verwüsteter Kriegsschauplatz für Vögel und Maden ist, dann ist auch der Mensch vergangen.“
Ziemlich hart ist diese Lektüre, die sich auch immer wieder den gewaltsamen Handlungen zuwendet, die Emma in ihrer Erinnerung durchspielt. Allein was diesen unschuldigen Menschen im neuen Fall angetan wurde, ist brutal genug.
Weniger Baustellen und Dramen hätten diesem ersten Thriller von Ule Hansen vielleicht gut getan und doch, es geht hochspannend zu, zumal die Hauptfigur eine äußerst komplexe Person ist, der man gern gedanklich folgt. Emma tritt in alle Fettnäpfchen, die bereitstehen. Sie denkt genial, macht ihre Fehler, entschuldigt sich und muss doch mit allem allein klarkommen.
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