Anne Tyler: Dinner im Restaurant Heimweh, Aus dem Amerikanischen von Ulrike von Puttkamer, Kein & Aber, Zürich 2014, 352 Seiten, €19,90, 978-3-0369-5688-6

„Pearl glaubt heute, dass ihre Familie versagt hat. Keiner ihrer Söhne ist glücklich, und ihre Tochter scheint es in keiner Ehe zu halten. Und niemand übernimmt die Schuld, außer Pearl selbst, die drei Kinder ohne fremde Hilfe großgezogen und natürlich Fehler gemacht hat – oh, ein Haufen Fehler.“

Als Pearl heiratet ist sie eine kleine, schmale Frau, die mit ihren dreißig Jahren nun doch noch unter die Haube kommt. Ihr Mann, Beck Tull, arbeitet als Reisevertreter, ist viel unterwegs und ein bisschen eitel. Pearl bekommt drei Kinder, Cody, Jenny und Ezra, zieht viel um und landet am Ende in Baltimore. Hier entscheidet Beck von einem Moment zum anderen, dass er keine Familie mehr möchte. Zwar schickt er noch Geld für die Kinder im Alter von 14, 11 und 9 Jahren und doch reicht es nicht. Pearl, die in dem Glauben geheiratet hatte, der Mann ernähre die Familie, sitzt nun verbissen an der Kasse des Supermarktes.
Pearl weiß um ihre Schwächen, sie hat keinen Spaß am Sex, kann sich nie gehenlassen, neigt zu einem krankhaften Perfektionismus und hat keine Ahnung, was ihr Mann eigentlich denkt. Als Beck sie verlässt, überträgt sie all ihre Unsicherheit und Reizbarkeit auf die Kinder. Nie zeigt sie Schwäche, weint nicht, schon gar nicht vor den Kindern. Zum einen erzählt sie über eine lange Zeit nicht, dass der Vater nie wieder zurückkehren wird und zum anderen steigert sie sich in hysterische Beschimpfungen gegen die Kinder, um ihre Unsicherheit zu kaschieren. Nie dürfen die Kinder Freunde mit ins Haus bringen. Die Familie sind nur sie vier, eine eingeschworene Gemeinschaft. Pearl igelt sich ein, gibt den Kindern wenig Freiraum, verhätschelt zum Ärger Codys ihren Goldjungen Ezra.

„Etwas stimmte mit all ihren Kindern nicht. Sie waren so entmutigend – attraktive, liebenswerte Menschen, alle drei, aber vor ihr verschlossen auf eine widernatürliche Art, die sie nicht recht kennzeichnen konnte. Sie spürte zudem im Leben aller drei eine Art durchgehenden Webfehler.“

Die Geschichte beginnt, da liegt Pearl Tull im Sterben in den 1970er Jahren. Anne Tyler schaut aus der Perspektive ihrer Hauptfigur und ihrer Kinder in die Vergangenheit.

In Rückblenden erzählen Cody, Jenny und Ezra von ihrer Kindheit, der Ausbildung und ihrem Familienleben. Der erfolgreiche, wie maßlos ehrgeizige Cody, der kein Spiel verlieren kann, ist nicht in der Lage zeitlebens seine Eifersucht auf seinen kleinen Bruder abzulegen. Cody erobert sogar die unattraktive, ja ungebildete Ruth, die Frau, die Ezra heiraten wollte. Jenny taumelt von einer Ehe in die nächste. Sie absolviert ihr Medizinstudium, bekommt ihre Tochter Becky und wird Kinderärztin. In dritter Ehe lebt sie in einer Großfamilie und heiratet einen Mann mit sechs Kindern, den die katholische Frau verlassen hat. Ezra wird nie bei seiner Mutter ausziehen und fühlt doch, dass er sie zutiefst enttäuscht hat. Er übernimmt, ohne je zu studieren, wie die Mutter es wollte, ein Restaurant und nennt es nach dem Tod der Besitzerin „Heimweh“. Doch kein Dinner, dass er für seine Familie ausrichtet, wird bis zum Ende von allen durchgehalten. Immer ist irgendjemand beleidigt, aufgebracht oder unzufrieden. Pearl tyrannisiert ihre Kinder mit ihren Launen, aber sie steht auch zu ihnen, wenn sie gebraucht wird. So kümmert sie sich ohne langes Bitten um ihr Enkelkind Becky, als Jenny verzweifelt und überfordert Hilfe benötigt. Nur Cody hasst die Mutter aus tiefstem Herzen. Als der lang verschollene Ehemann, Beck Tull, dann gutgelaunt auf der Trauerfeier seiner noch Ehefrau auftaucht, kann Cody nicht mehr an sich halten:

„ ‚… unsere Mutter war eine Hexe.‘ …. ‚ Eine rasende, kreischende, unberechenbare Hexe‘, sagte Cody zu Beck. ‚ Sie hat uns gegen die Wand geschleudert, uns Abschaum und Vipern genannt, hat uns den Tod gewünscht, uns so geschüttelt, dass die Zähne geklappert haben, und ins Gesicht geschrien.’“

So widersprüchlich wie das Leben sind auch Anne Tylers Figuren. Alle in der Tull-Familie sehnen sich nach Nähe, ob es die Kinder oder Kindeskinder sind. Sogar Codys Sohn Luke kennt dieses Gefühl und macht sie auf die Reise, um seine innere Leere zu füllen. \r\n\r\nAnne Tyler ist eine Entdeckung. Ihr Roman handelt von einer nicht unbedingt außergewöhnlichen, zerbrochenen Familie. Es ist das Seelenleben jeder einzelnen Figur, die den Leser berührt und beschäftigt. Ohne Frage kann man sich in die überforderte und so stolze Mutter hineinversetzen und sie gleichzeitig verachten. Die Kinder versuchen sich mit Macht von der Mutter und ihrem Einfluss zu lösen und schaffen es nicht, denn sie leben in der Erwartung, endlich Geborgenheit zu finden.