Paul Biegel: Eine Nachtlegende, Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2013, 183 Seiten, €15,90, 978-3-8251-7805-5

„Soll ich dir mal was erzählen, Kobold? Die Fee sitzt tagsüber dicht hinter dir. Und sie ist schneller, als du dich umsehen kannst. Und sie sieht alles, was du tust. Und sie flüstert dir Dinge ein. In deine Gedanken flüstert sie sich hinein. Denn das tun Feen. Und so lässt sie dich merkwürdige Dinge tun. Und so behext sie dich.“

Kann es wahr sein? Ist die kleine, sanfte Fee, die eines Tages vom Wind herbeigeweht und mit zerrissenen Flügeln vor der Tür steht, wirklich so gefährlich wie Ratte behauptet? Der Hauskobold, der seit Ewigkeiten in der Villa hoch oben unter dem Schilfdach lebt, ist sich da nicht sicher. Dabei muss er zugeben, dass er schon Angst vor den Zauberkräften der Feen hat. Aber ihre Geschichten sind einfach so spannend und faszinierend, dass er sie nicht ziehen lassen kann. Außerdem ist es bitterkalt draußen.
Ratte und Kröte sind stinksauer als der Kobold den beiden die Tür vor der Nase zuschlägt. Jeden Samstag kommen die zwei Kellerbewohner hoch ins Puppenhaus, dem Domizil des Kobolds, um mit ihm Karten zu spielen. Immer streiten sich Ratte und Kröte und jedes Mal will der Kobold die beiden rausschmeißen und schafft es doch nicht. Er bringt es auch nicht übers Herz die Wespenkönigin, die immer in der Puppenwiege ihren Winterschlaf hält, hinaus zu bitten. Was sich letztendlich als gute Entscheidung entpuppen wird.

Längst hat der Kobold seine Rundgänge im Haus unterlassen. Immer hat er nach nicht ausgelöschten Kerzen geschaut, denn die alte Großmutter, die noch im riesigen Haus lebt, benötigt jemanden, der auf sie aufpasst. Doch seit die kleine Fee so wunderbare Geschichten über sich und ihre Abenteuer erzählt, ist der Kobold wie verzaubert. Stimmt es doch, dass Feen die anderen in ihren Bann ziehen.
Die Fee kann so anschaulich und wunderbar berichten, dass der Kobold als schlechter Gastgeber sogar vergisst, endlich mal nach dem Honig zu schauen, den die Fee so mag.

Als die Fee, so erinnert sie sich, die Hummel hat sterben sehen, beginnt sie an ihrem unbeschwerten Leben voller Tanz und Spiel zu zweifeln. Sie möchte erleben, wie es ist zu heiraten, Nachkommen zu zeugen und dem Tod zu begegnen. Auf ihrem Weg durch die Natur trifft sie nun den hässlichen, verzauberten Kobold Urukuu, der sie als Trauerweide in seine Klauen bekommt und für den sie eine Seerose finden muss, damit er wieder laufen kann. Sie wirbelt durch verschiedene Landschaften und Zeiten, muss zeitweilig weit laufen, landet im Reich der Elfen, der gefährlichen Erlen und begegnet einem Riesen. Sogar ein Frosch erklärt sich bereit die naive Fee zu heiraten, kann es aber dann doch nicht, denn irgendwie fühlt sich alles falsch an.

Inzwischen verliert der Kobold den Blick für seine Umgebung, rettet aber die Ratte vor der Falle, die die Großmutter aufgestellt hat. Ratte und Kröte haben längst die Fee, die, wenn sie schläft, unsichtbar ist, entdeckt. Die Kröte verbreitet ebenfalls das Gerücht, dass die Fee gefährlich ist und muss sich letztendlich entschuldigen.

Der Kobold jedoch ist der Fee und ihren fantastischen Geschichten total verfallen. Als die Großmutter den Rattengreifer, den schwarzen Kater, ins Haus lässt, scheint Rattes Leben nur an einem dünnen Faden zu hängen. Doch die Fee bewegt dank ihrer Kräfte die müde Wespenkönigin.

Ob die sanfte Fee nun in ihrem Leben je heiraten wird, Nachkommen zeugen und sterben, stellt sich erst am Ende der Geschichte heraus. Der Mensch jedenfalls erlebt mit Höhen und Tiefen alles, wenn er will.

Ein wahrhaft meisterhafter Erzähler ist Paul Biegel aus den Niederlanden und es ist ein Glück, dass nach seinem Tod 2006 seine Bücher von literarischem Rang beim Verlag Urachhaus wieder aufgelegt werden. Der Autor schüttet einen ganzen Sack voll Geschichten aus, spinnt ein Garn aus märchenhaften, phantastischen, rührenden Motiven und belebt die Fantasiegestalten, die unter uns weilen könnten mit Humor und Tiefe.