Sarah N. Harvey:Sarah N. Harvey: Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren, Aus dem Englischen von Uli und Herbert Günther, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013, 240 Seiten, €12,95, 978-3-423-65001-4

„Ungefähr vor einem Monat, als ich ihn zusammen mit Mom besucht habe, war das Erste, was er zu mir sagte: ,Du siehst scheiße aus.\’“

Der 16-jährige Royce kann nicht fassen, dass seine Mutter Nina für ihren 95-jährigen, exaltierten, bissigen Vater, der sich angeblich nie sonderlich für sie interessiert hat, extra von Lunenburg, Neuschottland nach Victoria, British Columbia zieht. Ihre Schwester Marta hat eher das Gegenteil getan und ist von Kanada weit weg nach Australien geflohen. In fleckiger Kleidung und Pantoffeln mit ausgeschnittener Zehenöffnung jedenfalls erwartet Arthur Jenkins, der auch nicht Großvater genannt werden möchte, aufopfernde Zuwendung und Hilfe. Allerdings kommentiert er diese mit lauthalsem Gemecker und unflätigen, persönlichen Bemerkungen.

Als Nina neben ihrer eigenen Arbeit die Betreuung ihres wohlhabenden Vaters nicht mehr schafft, besorgt sie ihm geschultes Personal. Arthur, ein langer, knorriger Mann, vergrault die beiden Frauen und nun bleibt als Betreuungsperson nur noch Royce übrig. Obwohl er den grummeligen Greis nicht ausstehen kann, nimmt Royce die „Knechtschaft“ auf sich, denn die Bezahlung stimmt. Royce möchte sich unbedingt ein Auto kaufen und wieder nach Lunenburg zurückkehren. Doch mit der Zeit brechen trotz Facebook alle Kontakte von früher ab. Außerdem kann Royce nicht mitansehen, wie die Mutter unter ihren unbegründeten Schuldgefühlen leidet, wenn sie sich nicht persönlich um den Vater kümmert. Er schafft es immer wieder, die Tochter zu manipulieren und seinen Willen durchzusetzen.

Arthur schläft viel, sieht in seinem abgedunkelten Zimmer eine Soap nach der anderen und hört Rap und Hip-Hop. Dabei war er in seinen besten Zeiten ein berühmter und gefeierter Cellist, der mit Leuten wie Yehudi Menuhin oder Pablo Casals musizierte und Berühmtheiten, wie Pablo Picasso kannte. Ninas Mutter hat die Familie verlassen, da war die Tochter drei Jahre alt. Der Vater begab sich viel auf Reisen und Nina wurde früh ins Internat gesteckt.

Ohne Respekt nennt der Alte seinen Enkel „Junge“ und versucht ihn, bedingt vielleicht auch durch die Demenz, zu demütigen, wo er nur kann. Royce entwickelt ein dickes Fell, wenn es um Arthur geht und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.

Und dann schwenkt der Alte um und zeigt Royce seinen Schatz, den tadellosen Thunderbird, Baujahr 1956. Royce ist völlig fasziniert von dem Oldtimer. Ohne Wissen der Mutter fahren Opa und Enkel nun durch die Gegend oder zum Haareschneiden. Zwischen den beiden entwickelt sich langsam ein Waffenstillstand und ein salopper Ton, denn Royce entdeckt, dass Arthur durchaus charmant und freundlich sein kann, wenn er will. Durch die Erzählungen des Großvaters erfährt Royce vieles über ihn und die Familiengeschichte, von der sogar die Mutter nichts wusste. Keine Frage, Arthur interessiert sich durchaus für seinen Enkel. Und er berichtet Royce wehmütig, dass er in seinem ganzen Leben nichts anderes hatte als die Musik. Als die Karriere zu Ende ging, fiel er offensichtlich in ein tiefes Loch.

Doch dann folgt ein Schlaganfall dem nächsten und Arthur wird immer hinfälliger. Royce fühlt sich für Arthur verantwortlich und kann doch den Lauf des Schicksals nicht aufhalten. Als Arthur ihn schriftlich bittet, seinem Leben ein Ende zu setzen, gerät der Junge in eine schwere Krise. Er bringt es nicht über sich mit der Mutter zu sprechen, bis Arthurs zweite, geschiedene Frau im Krankenhaus erscheint und vieles verantwortungsbewusst lenkt. Aber Royce übernimmt auch ohne große Erklärungen fast instinktiv dem Opa die Panik vor seinem großen Abend, an dem er geehrt werden soll und er stellt dem tot kranken Arthur einen CD-Player ans Bett, um ihm seine Musik vorzuspielen.

Die Familie muss nun über Leben und Tod entscheiden, denn es gibt keine Patientenverfügung und Arthur lebt nur noch durch Maschinen.

Sarah N. Harvey hat ein durchaus bewegendes Buch über zwei sehr unterschiedliche Menschen geschrieben, die sich in den wenigen Monaten, die sie sich kennenlernen durften, viel gewonnen haben. Die kanadische Autorin wählt als Erzählperspektive die Sicht von Royce und trifft genau den Ton, der jugendlichen Lesern vertraut ist. Komische Momente, die Arthur und Royce erleben, wechseln im Laufe der Geschichte eher zu tragischen Augenblicken und auch hier spürt der Leser wie wichtig die beiden füreinander geworden sind. Auf vieles, was Royce mit Arthur erlebt, muss er sich einen eigenen Reim machen und er erkennt, wie verfahren Familienbeziehungen und verdrängte Erinnerungen sein können.