Alexia Casale: Die Nacht gehört den Drachen, Aus dem Englischen von Henning Ahrens, Carlsen Verlag, Hamburg 2013, 316 Seiten, €14,90, 978-3-551-58310-9

„Wie soll ich zwischen damals und heute unterscheiden, wenn sich all diese Gefühle und Gerüche und Geräusche mit einschleichen? Wenn ich das Damals plötzlich wieder leibhaftig vor Augen habe, wenn es nicht mehr vage und fern, sondern ganz klar und gegenwärtig ist?“

Wirklichkeit und Fantasie sind sich näher, als man glaubt. Ob nun Gedankenspiel, Tagtraum oder einfach nur fantastische Reise im Kopf, starke Empfindungen, Traumata, innere Konflikte benötigen oftmals ein Ventil, um verkraftet zu werden.Das ist der Fall bei der 14-jährigen Evie. Sie, das erfährt der Leser nach und nach und nie die ganze erschütternde Wahrheit, leidet seit Jahren unter Schmerzen. Ihr wurde, das ist nicht ganz klar wie, eine Rippe gebrochen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr lebt Evie bei Amy und Paul, ihren Adoptiveltern. Geprägt durch ihre Erfahrungen mit ihrer leiblichen Mutter Fiona und deren Eltern, bei denen Evie vor dem Tod der Mutter leben musste, traut sich das Mädchen nicht von ihren Schmerzen zu erzählen.

„Ich war mir sicher, dass Amy darüber hinweggehen würde, wenn ich meine schmerzenden Rippen zum allerersten Mal erwähnte.“

Aber Evie irrt sich, denn Amy und Paul nehmen alles, was die Tochter sagt sehr ernst.Sie hoffen auch, dass sich Evie Therapeuten anvertraut, um endlich über die Vergangenheit im Haus ihrer Großeltern, die sie nie so nennt, zu sprechen. Das Wort Missbrauch fällt, aber Evie, die auch die Ich-Erzählerin ist, weist es weit von sich, will nicht erinnert werden und hat doch die Bilder, die Erinnerungen im Kopf. Immer wieder geht es um die Frage, wie konnte Fiona ihre Tochter den gleichen Martyrien ausliefern, die sie selbst durchleben musste? Nach dem Unfalltod des Vaters zieht Fiona zu ihren Eltern mit ihrem Kind. War sie so schwach, so feige?

Evies Rippe wird entfernt und nun schnitzt sie gemeinsam mit Onkel Ben einen kleinen Drachen aus dem eigenen Körperteil. Evie glaubt an nichts und niemanden, aber sie hatte doch gehofft, dass dieser Drache lebendig werden könnte.\nEr erwacht dann wirklich in der Nacht zum Leben und führt auf Evies Schulter in der Landschaft des Marschlandes geheimnisvolle Gespräche mit ihr.

Evie bleibt auch für ihre Freundinnen eine undurchsichtige Person, die nie wirklich redet, nie jemanden ins Vertrauen zieht. Amy versucht immer wieder, der Tochter den Kummer zu nehmen. Erst in den Gesprächen mit der feinfühligen Lehrerin Mrs Winters öffnet sich Evie, fühlt sich nicht ausgehorcht, nicht analysiert. Schmerzlich auch die Tatsache, dass niemand die Eltern von Fiona zur Rechenschaft ziehen wird.
Auch Amys und Pauls Vergangenheit ist von einem schrecklichen Schicksalsschlag überschattet. Beide haben ihren Sohn Adam, ihre Eltern und die Frau von Onkel Ben durch einen tragischen Autounfall verloren.
Evie kann nach Jahren Amy endlich dazu bewegen über Adam zu reden, endlich kann Paul ein Bild seines Sohnes aufstellen und ihn wieder sehen.

Eng sind die Bindungen dieser durch Schmerz, aber auch tiefe Liebe entstandenen kleinen Familie. Evie ist sich sicher, dass sie sich aus ihrem Kokon langsam herausschälen kann und aufgefangen wird, auch wenn die Wut noch so groß ist. Am Ende wird sie zu Fionas Grab gehen können. Fiona war es auch, die ihr Kind kurz vor ihrem Krebstod beim Jugendamt gelassen hat, damit die Qualen im Haus ihrer Eltern eine Ende haben.

Ausgleichende Gerechtigkeit gibt es vielleicht nur in der Literatur, in dieser Geschichte durch den zauberhaften Dreh der Magie auf jeden Fall.

Ein bewegendes Debüt einer jungen englischen Autorin, sprachlich hervorragend, feinfühlig und vor allem nie voyeuristisch, wenn die Leiden der Figuren geht.