Hideo Yokoyama: 50, Aus dem Japanischen von Nora Bartels, Atrium Verlag, Zürich 2020, 347 Seiten, €22,00, 978-3-85535-097-1
„Die alternde Gesellschaft würde in Zukunft noch viel mehr Familien zerstören und das Lachen und die Unbeschwertheit aus den Gesichtern der Menschen stehlen.“
Der neunundvierzigjährige, unbescholtene Polizeihauptmeister Soichiro Kaji stellt sich während eines wichtigen Einsatzes der Polizeipräfektur und sagt aus, dass er seine an Alzheimer erkrankte Frau Keiko auf ihre Bitte hin erwürgt hat. Nach dem Tod ihres dreizehnjährigen Sohnes schwieg Keiko ein halbes Jahr. Als sie spürte, dass sie schwer erkrankt war und demnächst ihren Sohn vergessen wird, sehnte sie nur noch den Tod herbei. Der Abteilungsleiter im Dezernat I Shiki übernimmt die Vernehmung und muss erkennen, dass Kaji erst zwei Tage nach seiner Tat die Polizei aufgesucht hat. Offenbar hat er seine Frau getötet, den Leichnam in der Wohnung zurückgelassen, um dann Richtung Tokio zu fahren. Niemand versteht, warum sich Kaji, der angeblich keine Angehörigen mehr hat, sich nicht selbst der Ehre wegen getötet hat. Als dann noch herauskommt, dass er wahrscheinlich im Kabuki-Viertel, dem bekanntes Rotlichtviertel Tokios, war, fürchtet der Vorgesetzte von Shiki um den Ruf der Polizei und eine schlechte Presse.
Eine besondere Qualität dieses Romans ist seine Struktur. Aus der Sicht des Vernehmers, des Staatsanwaltes, eines Journalisten, des Verteidigers, des Richters und des Gefängniswärters umkreist Hideo Yokoyama den tragischen Tötungsfall. Allerdings hat jedes Kapitel einen anderen erzählerischen Kern. So sinniert der Richter über das Leben seines eigenen strengen, wie gefühllosen Richtervaters, der jetzt ebenfalls dement ist und von seiner Schwiegertochter gepflegt wird. Es geht um Rivalitäten zwischen der Polizei und der Staatsanwaltschaft, um Hierarchien und Vorgesetzte, die drohen, brüllen oder gar schlagen. Was die einzelnen Figuren jedoch immer wieder bewegt, ist das Schicksal des Polizisten und die unheilbare Krankheit seiner Frau. Dabei schwanken die Handelnden zwischen Mitleid, Abscheu, Unverständnis und Gleichgültigkeit. Als Shiki, der durch die Tat in seiner beruflichen Karriere Einbußen haben wird, in der Wohnung Kajis eine Kalligrafie entdeckt, befürchtet er, dass Kaji sich doch selbst töten will.
„Der Mensch lebt fünfzig Jahre….“ heißt es dort.
Interessant ist, dass Hideo Yokoyama die Handlung bis zur Gerichtsverhandlung zieht und letztendlich alle Fragen klären wird. Blickt man mit dem japanischen Autor tief in die japanische Gesellschaft, so wird doch in einer recht schnörkellosen, kühlen und auch bildlosen Sprache von einer von Männern dominierten Welt erzählt. Hier weiß niemand, wie der andere lebt und was er wirklich denkt. Hilfreich sind die Auflistungen der handelnden Figuren und der Glossar am Ende des Buches.