Petros Markaris: Zeiten der Heuchelei, Ein Fall für Kostas Charitos, Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger, Diogenes Verlag, Zürich 2020, 385 Seiten, €24,00, 978-3-257-07083-5

„Die Mörder sind keine Terroristen, sondern die frustrierten Loser des Systems. Unter ihnen muss ich suchen. Das ist zwar die logische Konsequenz, jedoch schwer umzusetzen. Denn wie soll man unter all den hoffnungslosen und verzweifelten Krisenverlierern, die die Hölle durchmachen, die richtigen herausfiltern?“

Alles beginnt dieses Mal mit einem ganz wunderbaren Ereignis. Der sympathische Kostas Charitos wird Großvater. Lambros heißt der neue, ziemlich laut schreiende Erdenbürger und natürlich hält er alle auf Trab. Adriani, Kostas Frau, hält sich nur noch bei ihrer Tochter auf und so kann Kostas sich endlich mal wieder Souvláki kaufen, ohne von seiner Frau kritisiert zu werden. Katarina braucht die Hilfe der Familie und sie wird auch eine Kinderfrau benötigen, denn sie kann sich keinen Verdienstausfall als freiberufliche Rechtsanwältin leisten. Alles könnte so schön sein, wenn Fanis Eltern, also die Großeltern väterlicherseits, sich nicht darüber aufregen würden, dass der Enkelsohn der Tradition nach nicht den Namen eines Großvaters trägt.

Aber Kostas hat ganz andere Sorgen, denn der unbescholtene Hotelmagnat, Paris Fokidis, wurde in seinem Auto per Bombe in die Luft gejagt. Fünf weitere Menschen wird der Tod ereilen und immer steckt hinter den Anschlägen das „Heer der Nationalen Idioten“. So unterschreiben die Täter ihre Bekennerschreiben, die zum einen in Schönschrift verfasst sind oder einfach mal bei Fernsehstationen per Telefonanruf diktiert werden.
Kostas und sein Team ahnen sehr schnell, dass hinter diesen tödlichen Attentaten auf Großunternehmer, EU-Mitarbeiter, dem Abteilungsleiter des Griechischen Statistikamtes und leider einem völlig Unbeteiligten keine professionellen Verbrecher stecken, sondern ältere Bürger, die durch die Langzeitkrise Griechenlands im Beruflichen wie Privaten zutiefst enttäuscht wurden und zum Teil am Existenzminimum leben.
Sie wollen ein Zeichen setzen und der Öffentlichkeit klarmachen, dass nur die Reichen vom sogenannten Aufschwung etwas haben.
Kostas ermittelt nun und eilt von einem Vorgesetzten zum anderen und muss auch bei Ministern wieder vorstellig werden. Er schafft es kaum, sich seinen Kaffee und das obligatorische Croissant zu besorgen. Und wie immer kämpft er mit den Staus in Athen.

Der Kommissar beißt sich am ersten Opfer fest und liegt auch genau richtig. Dieser Hotelmagnat galt als wohltätiger Ausbilder der jungen Generation, besonders derjenigen, die nur über Stipendien eine Lehre im Hotelbereich finanzieren konnten. Bei genauem Hinsehen jedoch zahlte Fokidis nicht in Griechenland Steuern. Seine Firma ist auf den Kaimaninseln, einem Steuerparadies, ansässig. Kein Vergehen, alles legal und doch Heuchelei. Als Vorwand wendete der Hotelmagnat immer den gleichen Trick an. Zum Saisonende schloss er sein Hotel, entließ die bei ihm jahrelang arbeitenden Leute über vierundvierzig. Mit Saisonbeginn stellte er junge Leute ein und musste denen bedeutend weniger Lohn zahlen. Auch wenn sie vom Hungerlohn kaum leben konnten, gelten sie als in Arbeit und Brot. Die Statistiken gehen aufwärts.

Lang hat man von Griechenland in den Medien nichts mehr gehört. In Petros Markaris Krimihandlungen geht es immer um die aktuelle Lebenslage der Griechen, in diesem Fall um den Mittelstand, der in der Angst lebt, in die Armut abzurutschen. Wie schnell das gehen kann, erklärt der Autor am Beispiel der sechzigjährigen Kinderfrau Melpo, die im Obdachlosenasyl leben muss, weil ihre Witwenrente zusammengestrichen wurde und ihre Arbeitskraft nicht mehr gefragt ist.

Am Ende ahnt der Leser, wer hinter all diesen brutalen Morden stecken könnte. Kostas hat den richtigen Riecher, aber so richtig froh kann er bei den Verhaftungen eigentlich gar nicht sein.
Als Ausgleich zum bitteren Thema zeigt Markaris die griechische Lebensfreude, denn alle Verwandten und Freunde feiern den kleinen Lambros, was einer deutschen Kleinfamilie sicher viel zu viel wäre. Zum anderen jedoch geht es um die gnadenlose Ausbeutung der Arbeitskraft und der klaglose Verzicht auf Menschen mit Lebens- und Arbeitserfahrungen. Die Scheinheiligkeit der EU-Mitarbeiter wird genauso vorgeführt wie die Heuchelei der Arbeitgeber.
Zum Glück hat Kostas einen kristenfesten Job und er wird sogar in diesem Band befördert. Man kann nur hoffen, dass er weiterhin – nun vom Chefsessel aus – genug Stoff für neue Krimis liefert.