Yvonne Zitzmann: Die geteilte Schuld, btb Verlag, München 2025, 304 Seiten, €24.00, 978-3-442-76306-1
„Nein, hatte sie geantwortet, ich habe keine Mutter. Und jetzt fragte sie sich auf einmal, wie es ihr ergehen würde, wenn ihr Sohn eines Tages wieder vor ihr stünde – würde sie ihm auch sagen, Hallo, Jean, aber ich bin doch deine Mutter, würde er ihr auch antworten, es wäre ihm einerlei? Könnte er MAMA zu ihr sagen, obwohl er es niemals zuvor zu ihr gesagt haben würde?“
In aktuell erschienen Roman „Medulla“ von Verena Günther ( Dumont Verlag ) verweigern die willensstarken Frauen die Mutterschaft und behalten sich vor, selbst zu entscheiden, was mit ihrem Körper geschieht. In Yvonne Zitzmanns Roman tragen die Frauen die Kinder aus, in der glücklichen Vorstellung, eine Familie zu gründen, werden von Männern und den gesellschaftlichen Gegebenheiten enttäuscht und verlassen ihre Kinder von einem Tag auf den anderen. Das sind nach Leidenswegen schmerzliche Entscheidungen, die schwer nachzuvollziehen sind und beide mit Schuld zurücklassen.
Jeweils aus der personalen Perspektive erzählt Yvonne Zitzmann, 1976 in Frankfurt an der Oder geboren, vom Schicksal zweier Frauen in unterschiedlichen Zeiten.
Martina Seiffert arbeitet 1977 als Kranführerin in Frankfurt / Oder, verliebt sich in den Schweißer und Musiker Mischa, der als Trassnik immer wieder in der Sowjetunion tätig ist, bekommt ein Mädchen und wird verlassen, da Mischa nach dem Auftritt mit seiner Band in Westdeutschland nicht in die DDR zurückkehrt.
2022: Katja Eisenberg, die vom Schreiben ihrer Romane nicht leben kann, arbeitet als freie Mitarbeiterin bei einer Zeitschrift, verliebt sich in den verheirateten Chefredakteur Markus, beginnt eine Affäre, bekommt einen Jungen und wird verlassen, da für Markus Frau und Kinder nebst Vorstadtvilla und Status wichtiger sind.
Einfühlsam wird nun zeitversetzt vom sehr unterschiedlichen Alltag beider Frauen berichtet, die eine innige Beziehung zur Sprache haben, lange Briefe schreiben, Geschichten erzählen, Worte ernst nehmen und mit ihnen umgehen können. Eng verbunden mit ihrer Arbeit als Passion und auch Existenzgrundlage, die eine als Kranführerin, die andere als Autorin und Journalistin, können beide jeweils mit Kind aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihren Berufen arbeiten und verlieren so ihr Selbstwertgefühl. Nicht mal Martina fängt eine helfende Brigade im realen Sozialismus auf, zumal sie auch noch die Frau eines Mannes ist, der seinem Land den Rücken gekehrt hat.
„Sie nahm sich vor, kein Wort mehr zu sagen. Sollte doch alles andere um sie herum dichtmachen, die Baustelle, der Staat, es war ihr egal. Alles war ihr egal, seitdem Mischa vor einer Woche weder im Bus noch im Interzonenzug nach Leipzig gesessen hatte.“
Beide Frauen verbindet jedoch noch etwas, sie sind Mutter und Tochter. Martina hat ihre fünfjährige Tochter Katja nach dem überraschenden Mauerfall, ihre Ausreiseanträge wurden nicht genehmigt, in der Wohnung allein gelassen, um nach Westberlin zu fahren. Wollte sie einfach nur nach Mischa suchen oder wirklich nur mal schauen, wie es im Westen aussieht?
Katja jedenfalls ist bei Pflegeeltern groß geworden und hat ihre Mutter mit achtzehn Jahren gesucht und gefunden. Für nicht mal eine Stunde hat sie sie in einem Café getroffen. Und nun ist sie selbst Mutter und sehnt sich nach der eigenen. Auch sie wird ihr Kind verlassen, ein Kreis wird sich schließen und die Schuld vielleicht geteilt.
In einer stellenweise zu blumigen Poesie, auch bei der Heroisierung der Arbeit auf dem Bau, überhöht Yvonne Zitzmann die Beziehungen der Frauen zu ihren schwachen Männern, die nur an sich selbst denken, Geschichten hören wollen oder Songs schreiben. Die Mühen des Alltags bleiben an den Frauen hängen und eine ungeheure Einsamkeit, die sie scheitern lässt, was gesellschaftlich nie goutiert wird, aber der Realität sehr nah kommt. Hier zeigt die Autorin ihre Stärke, im Entwickeln berührender Szenen, die Lebenswirklichkeiten einfangen und ehrlich darstellen.