Sally Nicholls: Wünsche sind für Versager, Aus dem Englischen von Beate Schäfer, Carl Hanser Verlag, München, 224 Seiten, €15.90, 978-3-446-25083-3

„Liz stand auf, als ob sie wegwollte, und ich fühlte mich wie vorm Ersticken. Wie Sterben war das und ich dachte, alle, die ich lieb habe, würden mich verlassen, immer, bis in alle Ewigkeit.“

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, dann wird es von den Eltern geliebt, sie geben ihm Sicherheit, Vertrauen und vor allem ein Zuhause. All dies hat Olivia Glass nie kennengelernt. Ihre alkoholabhängige Mutter hat sie bis zum fünften Lebensjahr völlig vernachlässigt, gedemütigt, geschlagen und zutiefst verunsichert. Jetzt ist Oliva elf Jahre alt, hat in mehreren Pflegefamilien gelebt und diese wieder verlassen müssen, denn das Mädchen zeigt immer wieder die gleichen Verhaltensmuster. Ihre Angstzustände lösen Wutattacken aus und ihr aggressives Verhalten führt zur Distanz und Ratlosigkeit bei Pflegeeltern und Sozialarbeitern. Wenn die so innerlich zerrissene Olivia nicht die absolute Kontrolle hat, dann ist sie hilflos, kann sich nicht einfügen, nicht angemessen reagieren. Bringt jemand ihr Vertrauen und Zuneigung entgegen, dann reagiert sie mit maßlos unverschämten Aggressionsausbrüchen, denn sie fühlt sich selbst nicht liebenswert. So provoziert das Kind Ablehnungen, um nicht enttäuscht zu werden. Dabei steigert sie sich durch ihre Hypersensibilität für Gerüche und Geräusche in wahnhafte Vorstellungen, die sie zwar artikuliert, die aber niemand ernst nimmt. Zwei Menschen bedeuten Olivia viel, ihre kleine Schwester Haley und Liz, einen Pflegemutter, die sie aber nur kurze Zeit aufgenommen hat, um sie auf eine neue Familie vorzubereiten. Liz kümmert sich auch weiterhin um Olivia, kann ihr aber kein Zuhause geben, wonach sich das völlig haltlose Kind so sehnt. Olivias Schwester Haley wurde adoptiert, auch Olivia sollte in der Familie verbleiben, aber die Pflegeeltern waren völlig überfordert mit dem aggressiven Kind.

Als das Sozialamt Olivia und ihre Geschwister in Obhut nahm, hielten sich die Kinder vier Tage allein eingeschlossen in der Wohnung auf. Ihre Mutter war längst im Gefängnis, hatte aber niemandem gesagt, dass sie Kinder hat und wo diese sich befinden. Erst die Einsicht in ihre Akten haben die Polizei alarmiert.

Olivia gewährt durch ihre Erzählungen, Einblicke in ihre Psyche, ihre Denkweise und ihre verstörenden Gewalterfahrungen mit Erwachsenen und Jugendlichen im Heim. Zu Beginn einer neuen Pflegschaft versucht das Mädchen zu funktionieren, brav zu sein, sich anzupassen. Durch die brutalen Erlebnisse mit der Mutter und einer der Pflegemütter, Violet, die sie stundenlang in den Keller gesperrt hat, ist Oliva völlig traumatisiert, schläft nie eine Nacht durch und spürt nur noch Verachtung für Menschen, die sich um sie kümmern sollen. Sie quält, wenn sie kann, gern die Schwächeren und nutzt Gutmütigkeit gnadenlos aus. Sie erträgt es nicht, allein zu sein. Sie kann nicht akzeptieren, was andere Menschen ihr sagen, sie glaubt niemandem. Fühlt sie sich eingeengt, dann schreit, spuckt, tritt sie um sich, sie beleidigt und äußert Tötungsabsichten.

Über eine längere Zeit bleibt Olivia bei ihrem Pflegevater Jim. Sie mag seine Kinder Daniel und Harriet und auch sie gewöhnen sich an die neue „Schwester“. Allerdings kommt sie nicht mit Grace und ihrem Baby zurecht. Das Kind erinnert sie an ihren Babybruder, den sie nur kurz erlebt hat. Das Bild einer längst verstorbenen alten grimmigen Frau, Amelia Dyer, eine „Babyfarmerin“, die Kinder getötet hat, auf dem Weg zu ihrem Zimmer löst in ihr qualvolle Ängste aus.

Alles ist auf einem guten Weg, doch Olivia kann, trotz therapeutischer Begleitung, nicht aus ihrer Haut. Letztendlich greift sie in ihrer verdrehten Vorstellung von Amelia mit einem Messer Grace und ihr Baby an und muss die Familie wieder verlassen. Alle erkennen, was mit diesem Kind geschehen ist, wie es mit seinen Panikanfällen, Aggressionsschüben und eigenen Gewaltfantasien kämpft und doch kann ihm niemand helfen.

Die innere Stimme des Kindes klingt in seinen analytischen Berichten erschreckend erwachsen. Wenn Olivia nach außen hin aggressiv agiert, dann will sie das eigentlich gar nicht und kann das auch formulieren. Sie möchte lieben und geliebt werden, sie möchte endlich vertrauen und die Zuneigung anderer annehmen können. \r\n\r\nImmer noch hofft Olivia verzweifelt auf die Liebe ihrer leiblichen Mutter und fürchtet sich gleichzeitig vor ihr. Ob sie nach den Geschehnissen zu Jim und seiner Familie, die sie ja eigentlich mag, zurückkehren kann, bleibt offen.
Sally Nicholls hat eine ergreifende Geschichte von einem verlorenen Kind geschrieben, das langsam zu sich selbst findet. Wie jugendliche Leser mit dieser zum Teil auch bedrückenden Lektüre umgehen, wäre interessant zu erfahren. Klar ist, Olivia ist ein Mädchen, das man nicht schnell vergisst.