Alison McGhee: Winterschwester, Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann, Deutscher Taschenbuch Verlag premium, München 2011, 280 Seiten, €12,90, 978-3-423-24846-4

„Schwesterchen war tot, meine Hühner wollten mich umbringen, und der alte Mann kam aus einem Land, das es nicht mehr gibt.“

Clara Winter baut sich in einem kleinen, amerikanischen Ort in den Adirondack Mountains im Staat New York ihre eigene Welt, so wie es ihr in den Sinn kommt. Da sie alle Bücher in der Bibliothek bereits kennt, schreibt sie Besprechungen zu Büchern, die es noch gar nicht gibt. Die junge Ich – Erzählerin Clara, die sich erinnert, erfindet Geschichten, lügt überzeugend, jongliert mit Worten und ist geschickt beim Buchstabieren. Zu ihren Lieblingsworten, die auf der Zunge zergehen, zählen: veritabel, Splitter oder Märtyrer. Die Elfjährige ist ein äußerst anstrengendes, eigenwilliges, fantasiereiches und vor allem lebendiges Kind, dass versucht, die vermeintlichen Leerstellen in seinem Leben selbst auszufüllen. Clara hasst den Winter und spricht ihren Nachnamen so aus, dass der Buchstabe „w“ ganz klein ist. Sie mag den Schnee und die Kälte nicht, denn diese sind schuld daran, dass Clara ihre Zwillingsschwester nie kennengelernt hat. Sie ist bei der Geburt auf dem Weg ins Krankenhaus, in dem das Auto von der eisigen Straße abgekommen ist, gestorben. Wenn Tamar, Claras Mutter, am Mittwochabend zur Chorprobe geht, dann besucht das Mädchen den alten Georg Kominsky, der siebenmal so alt wie sie ist und einsam in einem Wohnwagen lebt. Ihn möchte sie zum einen für ihr Geschichtsprojekt gewinnen und zum anderen sieht sie in ihm den Großvater, nach dem sie sich sehnt. Familie spielt für Clara eine bedeutende Rolle. Es scheint aber auch ein Großvater, der Vater von Tamar, zu existieren. Und wo ist Claras Vater? Noch nie hat Tamar auf diese Frage geantwortet. Clara überrollt den stillen Georg, der offensichtlich Analphabet ist, mit ihrer Neugier und all ihren ausgedachten und realen Geschichten. Und sie stellt penetrante Fragen, Fragen, die sich nur ein Kind ausdenken kann.

Zwischen den beiden so unterschiedlichen Menschen entsteht eine vertraute Gemeinschaft. Georg, der einst Blechschmied war, scheint die Gesellschaft von Clara zu mögen, denn er kauft ihr ihren Lieblingskeks und bringt ihr Bücher von seinen Sachensucher-Abenden mit. Auf vieles reagiert er nicht und er stellt keine Fragen. Und doch gibt er einiges Private aus seinem Leben preis. Clara baut um jeden Menschen, der ihr wichtig ist, Geschichten. So glaubt sie, ihr Großvater lebe als Eremit, sie dichtet Georg Heldentaten an und und denkt sich Abenteuer für den alten Mann aus.
Ab und zu kann sie schon nicht mehr zwischen Realität und Fantasiegespinsten unterscheiden. Die Schweigsamkeit ihrer Mutter belastet Clara sehr. Über alle möglichen Umwege und mit anhaltender Penetranz stellt das Mädchen seine ewig gleichen, unerbittlich bohrenden Fragen.

Im Laufe der Handlung enthüllen auch mit Georgs Hilfe sich viele Geheimnisse um Claras Familie und eine Tragödie wird geschehen.

Alison McGhees Hauptfigur Clara ist ein schillernder und widersprüchlicher Charakter. Zu viele Türen in der Vergangenheit sind geschlossen und Tamar will diese für ihre Tochter, aus verständlichen Gründen, nicht öffnen. „Einfacher als die Wahrheit ist es eine Geschichte zu erfinden“ heißt es in Claras Erinnerungen.
Doch das eigenwillige Kind wird die Erwachsenen dazu bringen, alles zu offenbaren, auch wenn es schwer fällt.