Adrienne Friedlaender: Willkommen bei den Friedlaenders! Meine Familie, ein Flüchtling und kein Plan, Blanvalet Verlag, München 2017, 218 Seiten, €16,00, 978-3-7645-0625-4

„Würden wir über jedes Kind, das im Meer ertrinkt, nachdenken, wären Mitleid und Schmerz unerträglich. Durch das Zusammenleben mit Moaaz bekamen die Bilder jedoch eine andere Bedeutung für mich, rückten in die Realität. Moaaz half mir, die ‚Flüchtlinge‘ aus der Anonymität zu holen. Sie wurden wieder zu individuellen Menschen, erhielten ihr Gesicht zurück.“

Es bleibt ein Dauerthema – die Flüchtlinge. Die Hamburger Journalistin ist in diesen Tagen eine gefragte Autorin. Zwei Jahre nach Angela Merkels optimistischem Ausruf „Wir schaffen das!“ blicken die Medien, ob NDR oder Deutschlandfunk Kultur gern zurück und fragen sich, was ist mit den Menschen passiert, die doch hoffnungsvoll zu uns gekommen sind. Wie leben sie und konnten sie sich in den Alltag integrieren? Und Adrienne Friedlaender kann vieles, mal komisch, mal ernst, über ihr Zusammenleben mit Moaaz, den jungen Syrier, der einundzwanzig Jahre alt war, als sie ihn in ihre Familie aufgenommen hat, erzählen. Triebkraft, für die Entscheidung zu handeln, waren die Söhne der Autorin, die zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt haben. Adrienne Freidlaender ist Alleinerziehende mit drei Jungen, und ihr Alltag ist sicher nicht einfach zu organisieren. Zwar ist ihr ältester Sohn bereits ausgezogen und doch birgt ja die Anwesenheit eines Fremden in den eigenen Räumen auch ein Risiko. Diese Zweifel jedoch wurden eher von außen hereingetragen, die gut vernetzte und offenbar auch lebensbejahende Autorin scheint wirklich keinen Plan gehabt zu haben und doch hat sie die Verantwortung für Moaaz einfach so übernommen. Er genießt es, einfach die Tür im Reihenhaus hinter sich zuzumachen. Er braucht einen Freiraum wie jeder andere auch und er muss den Kontakt zu seiner Familie halten, die in der Nähe von Damaskus mehr schlecht als recht überlebt. Wenn Moaaz seiner „neuen“ Familie die Bilder von Syrien vor dem Krieg zeigt, dann lebt er auf. Zurückkehren will er auf gar keinen Fall. Was ihm auf der gefährlichen Flucht vor dem Eintritt in die syrische Armee auf dem langen Weg nach Deutschland geschehen ist, wird nicht erzählt.

Moaaz ist ein äußerst höflicher Mann, aber auch sehr introvertiert, obwohl er Schauspieler werden wollte. Er überwindet seine Angst oder eher Antipathie vor Haustieren und versucht sich so gut wie möglich in den Familienalltag einzufinden. Im Gegensatz zu den ziemlich „paschaähnlichen“ Söhnen, bei denen die Erziehungsarbeit der Mutter irgendwie doch auf der Strecke geblieben ist, hilft Moaaz ganz selbstverständlich in der Küche oder im Haus. Für die Autorin auch immer ein Anlass für Gespräche mit ihrem „Ziehsohn“ über seine Familie, die Rolle der Frauen in muslimisch geprägten Ländern und seine Probleme mit dem Neuen zurechtzukommen. Als Moaaz einen Wecker zu Weihnachten bekommt, ist dieses Geschenk ein Wink mit dem Zaunpfahl. Pünktlichkeit ist nicht sein Ding und ein tiefer Schlaf nach langem nächtlichen Chatten wichtiger. Dass die Autorin total ausflippt, wenn er morgens nicht aufsteht, trotz wichtiger Termine, ist nur allzu verständlich. Als Moaaz dann seine Meinung zu den Auseinandersetzungen doch mal äußert, wird klar, wie anders die Menschen tausende Kilometer von uns entfernt ticken.

Adrienne Friedländer schafft es, trotz Sorgen und Verantwortung, eine gute Distanz zu Moaaz zu wahren. Sie versucht sich in seine Situation hineinzudenken, ihre Reisen auch in den Orient sind da schon eine Hilfe, und sie hinterfragt vieles nicht oder nimmt es persönlich, wenn Moaaz keine Hilfe will. Diese Gelassenheit hat sicher geholfen, wenn Moaaz Fragen nicht beantworten konnte oder wollte. Berührend sind die Szenen mit Adrienne Friedlaenders neunzigjähriger Mutter, die beherzt den Jungen unter ihre Fittiche nimmt, mit ihm lernt und ihn unterstützt. Ohne Sentimentalität oder falsche Toleranz, auch die Geschehnisse in der Silvesternacht in Köln werden thematisiert, berichtet die Autorin von den Monaten mit Moaaz, der jetzt mit seinem Freund Hussein eine Wohnung in Hamburg gefunden hat. Für diese kurze Zeit in Deutschland hat er bereits ein ausgezeichnetes Sprachniveau erreicht und kann sicher studieren. Profitiert hat nicht nur Moaaz von seinem Leben bei den Friedlaenders, auch die Autorin und ihre Söhne sind um vieles reicher.
„Aber ich glaube, schon an dem Versuch bin ich etwas gewachsen und habe sicher noch einmal mehr gelernt, bewusst zu schätzen und zu genießen, was oft so selbstverständlich für uns ist: Nahrung, Sicherheit, ein komfortables Leben, ohne viel Verzicht und vor allem die wärmende Familie in allen Lebenslagen an meiner Seite.“