Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band, Aus dem argentinischen Spanisch von Ilse Layer, KJB, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2013, 249 Seiten, €14,99, 978-3-596-85489-9
„Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass das Leben mitten in etwas, das nichts mit dem Tod zu tun hatte, plötzlich zu Ende sein konnte.“
Wenn Alma und Carmen zusammen im Baumhaus auf ihrer kleinen Insel sitzen und sich alles erzählen, was in der letzten Woche geschehen ist, zusammen mit dem kleinen Lucio spielen, Sardinen auf dem Spieß braten und kichern, dann ist für Alma die Welt in Ordnung. Das Mädchen reist von Buenos Aires mit ihren Eltern an fast jedem Wochenende auf die Insel, Carmen wohnt mit ihrem Bruder Marito und den beiden Onkel Tordo und Chico bei der Großmutter Dona Angela. Die Mutter von Carmen und Marito ist mit einem Mann durchgebrannt, der Vater arbeitet auf der Werft in der Hauptstadt.
Almas Kindheit ist geprägt durch die Wochenenden am Flussdelta mit Carmen, der Angst vor Tordo und seinen wilden Liebeseskapaden mit der sogenannten Ungarin. Die Mädchen beobachten die Erwachsenen, spielen alles nach, was sie gelesen haben und fühlen sich doch mitten in der Natur wie im Paradies. Klar ist, dass Carmens Familie ziemlich arm ist, denn Marito erhofft sich von Almas Eltern etwas Unterstützung bei seinem Vorhaben, an der Technischen Universität in Buenos Aires zu studieren. Aber die Eltern von Alma kennen nur einen Streitpunkt, das Geld. Allerdings sind sie im Gegensatz zu Dona Angela wohlhabend. Alma besucht eine katholische Mädchenschule und leidet darunter, dass sie in der Stadt keine Freunde hat. Als die Pupertät einsetzt, wird Alma zu den angesagten Partys nicht eingeladen und wenn sie dabei ist, steht sie nur herum, kein Junge beachtet sie.
Als die Mädchen 14, 15 Jahre alt sind fühlt sich Alma unwohl, sie merkt, dieser Sommer wird nicht so werden, wie die vergangenen. Carmens körperlich rasante Entwicklung und Schönheit verunsichert Alma und sie entdeckt, dass sie sich in Marito verliebt.
Zerrissen zwischen ihren neuen Gefühlen, ihrer inneren Wankelmütigkeit und der heimlichen Sehnsucht geht Alma auch auf Distanz zu ihren Eltern, die den Umgang mit den armen Inselnachbarn plötzlich nicht mehr als standesgemäß erachten.
Als Carmen Alma ehrlich und ohne Scham von ihren ersten sexuellen Erfahrungen mit ihrem Freund Emil berichtet, platzen Almas rosa Mädchenträume wie eine Seifenblase. Für sie, und das liegt an ihrer Erziehung und Unwissenheit, verbindet sich mit Sex immer eine diffuse Vorstellung von Bestrafung. Als sich Marito auf Alma zubewegt, wissen beide nicht genau, ob es wirklich richtig ist. Die Umwelt, auch Tordo, signalisiert ihnen, auf Abstand zu gehen. Marito zieht sich zurück.
Als Alma dann ihre sogenannten angesagten Freundinnen auf Betreiben der Eltern zu einer Party auf die Insel einlädt, distanziert sich Alma, die spürt wie lächerlich die Stadtmädchen Carmen finden, von ihrer Inselfreundin und zerstört innerhalb von Sekunden diese für sie so wichtige und einzige Freundschaft.
„Mein Begrüßung hatte klar zu verstehen gegeben, dass ich nicht viel mit ihr zu tun hatte. … Jetzt waren sie Zeugen meines Verrats geworden, und dabei begriffen sie nicht einmal, was ich gerade getan hatte.“
Carmen und Alma werden sich nur noch einmal sehen. Zwei Jahre später, die Diktatur ist in Argentinien an der Macht, steht die schwangere Carmen vor Almas Tür und bittet um kurzzeitige Unterkunft. Alles hat sich verändert zwischen ihnen, sie reden nicht miteinander, was Alma tief bereuen wird. Alma und Marito haben inzwischen ihre Liebe entdeckt. Ihre Treffen verlaufen nie konfliktfrei, denn Marito gibt Alma oft das Gefühl, sie wäre naiv, hätte keine Ahnung von der realen Wirklichkeit. Sie streiten über Religion und Alma entwickelt eigene Ansichten, die sie in der Schule zum Ärger der Lehrerinnen und ihrer Eltern vehement vertritt.
In gewisser Weise fühlt sich Alma in fast allen Momenten zerrissen, nur auf der Insel hat sie das Gefühl, mit sich im Reinen zu sein, ganz zu sein.\r\nDie bittere Konfrontation mit der „realen Wirklichkeit“ wird für Alma dann mehr als schmerzlich werden.
Der Jugendroman „Wie ein unsichtbares Band“ spielt, so äußerte Inés Garland in einem Interview, in der Landschaft ihrer Kindheit. Die Autorin war 16 Jahre alt, als der Militärputsch Argentinien veränderte.
Aus der Sicht Almas erzählt, gibt die Autorin nicht mehr Preis als das, was ihre Hauptfigur in Erfahrung bringen kann. Inés Garland lässt den Leser so in vielem im Ungewissen und doch ahnt er, was geschehen sein könnte. In einer literarisch anmutigen wie poetischen Sprache, die viel Raum für eigene Gedanken lässt, erzählt die argentinische Autorin von der Kindheit und Jugend zweier Mädchen, die aus verschiedenen Welten kommend, sich aber auf der Insel, ohne die Einflüsse von außen, mehr als gut verstehen. In dem Moment jedoch, in dem die beiden Protagonistinnen in die Welt hinausgehen oder diese in das Inselidyll einbrechen, verstummen oder zerbrechen die Beziehungen.
Inés Garland schildert die Entwicklung der Mädchen von der herrlich unbeschwerten Kindheit, in der man sich alle Geheimnisse erzählt, über die Pupertät mit all ihren komplizierten und unsicheren Phasen bis hin zur ersten, dramatisch endenden Liebe, die die Kindheit unweigerlich beendet.
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