Mirjam Pressler: Wer morgens lacht, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2013, 256 Seiten, €17,95, 978-3-407-81143-1

„…. aber in meinen Träumen ist das ganz anders, in meinen Träumen spielt sie Katz und Maus mit mir und gewinnt immer.“

Niemand kann sich seine Familie aussuchen. Man wird in sie hineingeboren und muss mit ihr leben, bis man auf eigenen Füßen steht und entscheiden kann, ob man Kontakt halten will oder nicht. Die innere Auseinandersetzung mit Vater, Mutter oder Geschwistern endet trotz geografischer Entfernung jedoch im seltesten Fall. Die zweiundzwanzigjährige Anne kann sich von ihrer Familie durch ihr Biologie-Studium in Frankfurt abnabeln. Gedanklich setzt sie sich jedoch immer wieder mit ihrer Schwester Marie auseinander. „Bis heute sitzt sie mir im Genick,.. Sie ist im Hintergrund immer da.“

Marie hat das spießige Elternhaus in Allach mit siebzehn Jahren von einem Tag auf den anderen einfach verlassen. Per Telefonat teilt sie ihrem Vater mit, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren wird. Ein Schock. Die Familie reagiert wie so oft mit Schweigen.
Anne erhofft sich den Befreiungsschlag von ihrer Schwester Marie, indem sie alles aufschreibt, auch wenn sie ihren Erinnerungen misstraut. Der innere Monolog mit ihrer so überlegenen, willensstarken, schönen und von allen geliebten Schwester bestimmt Annes Lebensgefühl. Sie will wieder sie selbst sein, ihr seelisches Gleichgewicht finden, denn sie fühlt sich schuldig, weil auch sie nach Maries Verschwinden geschwiegen hat.

Annes Mutter wollte keine Kinder. Doch dann kam Marie und drei Jahre später Anne.
Benannt wurden die Mädchen nach der Großmutter Annemarie. Omi spielt auch die Hauptrolle in der Kindheit der Mädchen, denn sie hat ihnen vieles beigebracht. Auch Annes Begeisterung für biologische Themen verdankt sie der Naturverbundenheit der Omi. Aber die streng gläubige katholische Omi verbreitet als Vertriebene mit ihrer Trauer um die verlorene Heimat auch Wehmut. „Wer morgens lacht und mittags singt, am Abend in die Hölle springt.“ Das war der Leitsatz der Omi, die allem misstraute, der Freude am Leben und dem Glück. Schnell geht die Mutter der Mädchen wieder arbeiten und wird auch, da der Vater seine Arbeit verliert, die Familie ernähren. Nie finden die Mädchen Freundinnen, denn die Omi warnt sie vor den Enttäuschungen, die unweigerlich eintreten, wenn man mit anderen Menschen näher Kontakt hat. Abfällig spricht die Mutter über die Omi, da ist sie schon lang tot.
nEinzelne Schlüsselszenen beschreibt die Ich-Erzählerin Anne, die ihr schwieriges Verhältnis zur Schwester offenbaren. Hat sich Anne sehr um die Omi gekümmert, so suchte Marie eher die Vergnügungen. Als die Mutter den Mädchen erlaubt, etwas aus dem Zimmer der Omi als Erinnerung zu nehmen, greift Marie nach der Goldkette mit dem kleinen Kreuz. Anne ist empört. Die sprunghafte Marie verteidigt ihr Eigentum mit dem scharf formulierten Satz, dass die Omi sie viel lieber hatte als Anne. Irgendwann hat Marie die Kette einfach verloren. Anne kompensiert ihre Zurückstellung in der Familie, auch der Vater liebt die Älteste mehr als sie, mit guten Leistungen. Marie fällt in der Schule zurück und lernt nicht gern.
Marie setzt jeden ihrer Wünsche den Eltern gegenüber fordernd durch und wenn diese nicht erfüllt werden, folgen Erpressungen bis hin zum versuchten Selbstmord. Marie erhält das, was sie will und Anne erbt die abgetragenen Sachen. Aber Marie ist auch neidisch auf Anne und äußert dies in heftigen Beleidigungen. Auch Anne ist eifersüchtig, kann dies aber nicht zeigen.

Beide Schwestern empfinden das Leben der Eltern in ihrem kleinen Zuhause als extrem langweilig und öde. Emotionen spielen nie eine Rolle, nie wird gelacht, nie gibt es eine innige Umarmung, vielleicht mal einen Kuss auf die Stirn. Die Mutter liebt ihre Arbeit als Filialleiterin einer Bank, der Vater züchtet Hasen und trinkt.

Anne isst die Hasen, Marie verweigert sich. Sie sagt immer was sie denkt, kennt keine Rücksichten. Anne nimmt sich zurück, erledigt die Hausarbeiten für Marie, auch aus Angst vor Konfrontationen.

Anne offenbart sich auch Ricki, ihrer Mitbewohnerin, in der Frankfurter WG. Beide reisen zu Annes Eltern. Sie offenbaren nach so langer Zeit ein völlig neues Bild von den Geschehnissen innerhalb der Familie. Aber auch Anne hätte etwas zu berichten.

Der Blick tief in die Strukturen einer Familie, den Abhängigkeiten und Gewohnheiten bestimmen den Handlungsverlauf dieser Geschichte. Mirjam Pressler erzählt aus Annes Sicht von einer einst harmonischen und dann nur noch quälenden Beziehung. Die Schweigsamkeit der Eltern und ihre Angst trugen wenig dazu bei, dass Anne als Kind oder Jugendliche verstehen konnte, was eigentlich mit Marie wirklich los war. Psychologisch interessant ist dieses Schwesternverhältnis geschildert, denn immer wieder stellt Anne die Erinnerungen in Frage. Vieles ist nicht erklärbar, denn die Erzählerin weiß selbst nicht, wie sie bestimmte Szenen deuten soll. Ausgeprägte Verhaltensmuster der Erwachsenen prägen die Kindheit der Geschwister, auch Anne kann sich dem nicht entziehen.

Eine Versöhnung wird es nicht geben. Die Eltern vermuten, dass Marie tot ist.