Lisa Ballantyne: Wenn du vergisst, Aus dem Englischen von Marie Rahn, btb Verlag, München 2017, 479 Seiten, €9,99, 978-3-442-71525-1

„Margaret Holloway, stellvertretende Rektorin, Ehefrau und Mutter wusste nicht, was ihr als kleines Mädchen widerfahren war, und hatte schreckliche Angst davor, es herauszufinden.“

Die traumatische Erinnerung kann tief vergraben im Gedächtnis nie mehr auftauchen, doch ein Anlass, ein Zeichen, ein Gesicht kann sie wieder hervorholen und ein intaktes Leben völlig durcheinander bringen.

An einem eisigen Dezembertag im Jahr 2013 setzt sich Margaret Holloway in ihr Auto. Sie ist verärgert, da ihr Schützling, sie kümmert sich um verhaltensauffällige Schüler, von ihrer Schule fliegen soll. Ohne ihre Schuld gerät die Lehrerin auf dem Heimweg in einen Massenkarambolage und sitzt eingequetscht in ihrem Auto. Sie riecht den Benzingestank und ahnt die Gefahr. Ein Mann mit einem entstellten, stark vernarbten Gesicht zieht sie in letzter Sekunde aus ihrem Wagen. In dem Chaos vor Ort verliert sie ihn aus den Augen.

Lisa Ballantyne erzählt ihre Geschichte mal aus Margarets Sicht, dann wieder aus der Sicht von Big George und dem schmierigen Journalisten Angus Campbell. Beide Männer schildern Geschehnisse vor achtundzwanzig Jahren und der Leser rätselt zu Beginn, was diese beiden mit der damals siebenjährigen Margaret zu tun haben könnten. Big George ist 1985 siebenundzwanzig Jahre alt. In seinem Leben in Glasgow ist vieles schief gelaufen, zumal er aus einer gewalttätigen Familie stammt. Zu gern möchte er mit Kathleen, seiner Jugendliebe und ihrem gemeinsamen Kind Moll zusammen sein. Allerdings hat Kathleen sich gegen ihn entschieden und einen anderen Mann, einen Bekannten ihres Vaters geheiratet. Keine Frage, Big George, der große, gutaussehende Mann, ist Margarets Vater. Ihm wird schnell klar, als er Kathleen von Weitem beobachtet, dass er keine Chance hat, in ihrem Leben eine Rolle zu spielen. Aber er nähert sich seiner Tochter und ohne die wirkliche Absicht entführt er das aufgeweckte Kind. Für den selbstverliebten und gehemmten Angus Campbell, der seine Frau schlägt, um sie „zu erziehen“, ist die Entführung des Kindes ein veritables Thema, um sich als provinzieller Schreiberling einen Namen zu machen. Er findet heraus, dass Margaret nicht die Tochter von John ist und bringt die Polizei dazu, nach dem biologischen Vater zu suchen. Als diese der Spur nicht nachgeht, macht er sich auf die Reise Richtung England. Big George hat Geld veruntreut und glaubt nun, mit seinem Kind ein neues Leben anfangen zu können. Aber Moll wehrt sich gegen den Fremden, sie fasst kein Vertrauen zu ihm und sie bringt ihn dazu, seine größte Schwäche zugeben zu müssen. Er kann nicht lesen.

Nach dem Unfall spürt Margaret, die viel zu schnell wieder arbeiten geht, dass sie diesen Mann, der ihr das Leben gerettet hat, finden muss. Sie recherchiert in den Aufzeichnungen ihrer bereits verstorbenen Mutter nach Hinweisen auf ihre Kindheit. Sie weiß, dass etwas geschehen ist, aber sie kann sich nicht erinnern. Ein Schweigen erschien den Eltern damals eine Linderung für die möglicherweise erlittenen Übergriffe, über die Margaret nicht reden konnte. Als das Kind zu den Eltern zurückkehrte, verweigerte sie jegliches Gespräch und schwieg selbst ein halbes Jahr.

Nach und nach kehrt die Erinnerung zu Margaret zurück, sie findet den im Koma liegenden Maxwell Brown, dem sie danken möchte.

Psychologisch nachvollziehbar erzählt die Autorin von völlig gegensätzlichen Menschen, die über eine gewisse Zeit sich annähern, einander beeinflussen und wieder verlieren. Das Kind Moll beginnt ihrem Vater auf der Flucht das Lesen beizubringen. Unbewusst wird dieses auch traumatische Kindheitserlebnis ihre weiteres Leben beeinflussen. Aber auch Big George zieht aus dieser kopf- wie gedankenlosen Odyssee mit seiner Tochter durch England, die dramatisch enden wird, Positives. Wie diese beiden Menschen sich wiederfinden und erneut verlieren, liest sich spannend, berührend und vor allem sehr unterhaltsam.