Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte, Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2016, 282 Seiten, €19,90, 978-3-423-28075-4

„Was war ihnen entgangen, das sie hätten sehen sollen? Welche kleine Geste, vergessen, hätte alles ändern können? Sie werden es bis auf die Knochen sezieren und sich wundern, wie alles so falschlaufen konnte, und dennoch niemals Gewissheit erlangen.“

Middlewood in Ohio, ein 3000 Seelen – Ort mit College, hier lebt die Familie Lee, angesehen von den Nachbarn und doch abseits der Gesellschaft. Prof. James Lee arbeitet als Dozent am College und hält jahrein jahraus Vorträge über das Leben der Cowboys. Er ist ein Kind von armen chinesischen Einwanderern, die für ihren Sohn alles getan haben, damit er eine gute Ausbildung erhält. Seine Frau Marilyn ist ebenfalls Amerikanerin. Von der Mutter allein erzogen, strebt Marilyn nach einer akademischen Laufbahn, obwohl ihr von Zuhause eingeredet wurde, sie bräuchte nur einen Mann finden und könnte dann glücklich eine Familie gründen. \r\nAls Marilyns Mutter ihren künftigen Schwiegersohn Mitte der 1950er Jahre sieht, erklärt sie unverblümt, dass er nicht der richtige Mann für ihre Tochter sei. Marilyn wird ihre Mutter nach der Hochzeit nie wieder sehen. Die Lees bekommen drei Kinder, Lydia, Nathan und Hannah, und Marilyn steckt beruflich zurück.

Die Geschichte beginnt mit dem Verschwinden der ältesten 16-jährigen Tochter Lydia. Nachdem sich herausgestellt hat, dass Lydia im nicht weit entlegenen See ertrunken ist, stellen die Polizisten ihre Recherchen über die Ursachen von Lydias Tod schnell ein. Sie sind der Meinung, Lydia hätte Selbstmord begangen.

Lydias Mutter ist überzeugt, dass jemand ihrem Kind etwas angetan haben muss und dass die Polizei, wäre Lydia „weiß“, mehr getan hätte.

Die Lees fallen einfach auf in dem kleinen Ort, sie sind diejenigen mit den „Schlitzaugen“. Familie Lee lebt isoliert und sogar Lydia, die Rückblicke erzählen davon, täuscht ihren Eltern ihre Freundinnen einfach nur vor, damit diese glücklich sind. Immer wieder predigt der Vater den Kindern, sie müssten sich einbringen, Freunde finden, mittendrin sein, fleißig lernen, um dazuzugehören. Lydia lebt mit ihrer Lüge, ohne zu ahnen, wie einsam und isoliert die Kindheit und Schulzeit ihres Vaters war.

Als Marilyn nach dem Tod der Mutter ihr trauriges Zuhause wiedersieht, reift in ihr der Gedanke, dass sie ihr Lebensziel zu promovieren, wieder in Angriff nehmen muss. Da sie auf James‘ Verständnis nicht zählen kann, er verdient ja genug für die Familie, verlässt sie ihr Zuhause. Mit dem Erbe, aber auch innerlich zerrissen, studiert Marilyn weiter, stellt dann aber fest, dass sie wieder schwanger ist und gibt auf.

Nie wird darüber gesprochen, dass Marilyn zur Familie zurückkehrt. Jetzt konzentriert Marilyn, die nie wieder brav kochen wird, all ihre Energie, all ihren Ehrgeiz und alle Erwartungen auf ihre Erstgeborene. Nath und Hannah sind wie Schattenkinder, nur Lydia und ihre Erfolge zählen für die Mutter. Das Mädchen spürt instinktiv, dass die Mutter, wenn sie gut funktioniert, nicht wieder fortgehen wird.

Die Anspannungen in der Familie sorgen für ein seltsames Klima. Nath ist eifersüchtig, zumal er ohne den Druck der Mutter, exzellente Leistungen erzielt und nach Harvard gehen kann. Auch wenn Lydia immer der Liebling der Mutter ist, halten die Geschwister, auch weil sie niemand anderen haben, zusammen. Lydia schafft inzwischen die schulischen, naturwissenschaftlichen Anforderungen kaum noch. Lydia weiß, auch als sie sich mit dem Nachbarn Jack anfreundet, selbst überhaupt nicht, was sie eigentlich will.

„Und Lydia – der unfreiwillige Mittelpunkt der Familie – hielt jeden Tag die Welt zusammen. Sie schluckte die Träume ihrer Eltern und unterdrückte den Widerwillen, der in ihr brodelte.“

In Zeitsprüngen und einprägsamen Szenen erzählt die amerikanische Autorin von der inneren Dramatik des Andersseins. James ist binationaler Herkunft und fühlt sich zeitlebens seinen Mitmenschen nicht gleichwertig. Marilyn spürt diese Diskriminierung auf einer anderen Ebene, als Frau, die nicht beruflich durchstarten kann. Für ihre Kinder wollen beide, wie alle Eltern, das beste erreichen. Schreibt Celeste Ng einfühlsam und sprachlich präzise, so wird klar, bei den Lees wird über nichts gesprochen. Nie erzählt der Vater vom Leben seiner Eltern, nie kann Marilyn ihre wahren Erwartungen ans Leben aussprechen, den Grund ihrer Flucht, nie können die Kinder den Eltern verdeutlichen, wie sie sich fühlen, was mit ihnen geschieht. So fährt der Vater nicht mehr mit der Familie in den Urlaub, weil sie als Personen auffallen und angestarrt werden. Diese sich kontinuierlich durch die Handlung ziehende latente Diskriminierung der Familie als „nicht weiß“, die immer wieder thematisiert wird, schmerzt beim Lesen und wirft Fragen an die amerikanische Gesellschaft, die so multinational erscheinen will, auf. Letztendlich verkraftet Lydia die ererbten Träume ihrer Mutter und deren erstickende Liebe nicht mehr.

Celeste Ng hat eine packende Familiengeschichte geschrieben, die eine Seite der amerikanischen Gesellschaft offenbart, die nicht oft thematisiert wird.