Alice Kuipers: Vor meinen Augen, Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig, FJB, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 221 Seiten, €14,95, 978-3-8414-2121-0
„Wenn ich ein Gedicht schreibe, fühle ich mich während der ganzen Zeit des Schreibens gut. Die restliche Zeit weiß ich nicht, was ich fühle. Ich will eigentlich gar nichts fühlen.“
In ihrem neuen Buch widmet sich die amerikanische Autorin Alice Kuipers wieder einem Mutter-Tochter-Konflikt. Die 16-jährige Sophie führt auf Anraten ihrer Therapeutin, mit der sie jedoch nicht reden kann, Tagebuch seit dem 1. Januar. Vor einem halben Jahr ist mit Emily, Sophies Schwester, etwas Schreckliches geschehen. Was dieser Familie widerfahren ist, bleibt unklar. Sophies Mutter, die die Kinder allein großgezogen hat, der Vater ist früh verstorben, kann aus Trauer ihre Arbeit als Innenarchitektin nicht aufnehmen. Sophie hat den Kontakt zu ihren Freundinnen, speziell zu Abigail fast verloren. Rosa -Leigh stammt aus Kanada und ist neu in der Klasse. Beide Mädchen nähern sich einander an und Rosa-Leigh zeigt Sophie ihre Gedichte. Es gibt immer wieder Spannungen zwischen Sophie und ihrer Mutter, die den Verlust nicht ertragen kann. Sophie reagiert mit Trotz und Bockigkeit, denn in ihren Erinnerungen hatte Emily immer mehr Freiheiten als sie. Sophie bemerkt, dass das Zimmer der Mutter sich anhäuft mit Sammelobjekten. Sie nimmt alles mit, was andere verloren haben. Auf jede Veränderung in Emilys Zimmer reagiert die Mutter hysterisch, fast feindlich. Sophie spürt die Distanz und glaubt, dass die Mutter lieber sie als die ältere Schwester verloren hätte.
Vor Sophies innerem Auge spielen sich immer wieder katastrophale Horrorbilder ab, sie sieht aus heiterem Himmel in völlig alltäglichen Situationen plötzlich explodierende Autos oder ein Feuerinferno.
Sophie glaubt, dass alles zerbrochen ist und die Familie auf ganzer Strecke gescheitert ist, wenn sie andere und ihr Leben beobachtet. Jedes Gefühl von Normalität, wie Partys, Shoppen und Lästern mit den Freundinnen oder Jungs scheint für Sophie nicht möglich zu sein. Abigail erträgt Sophies Schweigen, ihre bedrückende Gegenwart, die ständige Trauermiene nicht mehr und Abigail schnappt sich Dan, den Sophie mag.
Der subjektive Blick des Mädchens kreist um die anderen und ihre Erinnerungen an die guten Zeiten mit ihrer Schwester.
Nach und nach nähern sich jedoch die Tagebuchaufzeichnungen dem wahren Ereignis, dass vor Sophies Augen geschehen ist. Sophie denkt, dass sie schuldig geworden ist, schuldig am Tod der Schwester, denn sie hat ihren Schnürsenkel auf dem Weg zur U-Bahn binden müssen. Hätten sie einen Zug in London früher genommen, wäre alles nicht geschehen.
Auf den Moment der Auflösung und Erklärung des Unglücks muss der Leser lang warten, denn Alice Kuipers Hauptfigur verschanzt sich hinter allen möglichen Vorwänden, um sich an den schwersten Augenblick in ihrem Leben nicht zu erinnern. Die Verdrängung jedoch hilft nicht. In der Konfrontation mit der Mutter lebt Sophie einen Teil ihrer Hilflosigkeit aus, zerstört aber zu viel.
Alice Kuipers Jugendroman dreht sich um Schuldgefühle, Vertrauen, Trauer und die Zufälle im Leben. Die Autorin bedient sich nicht der typischen Jugendsprache, sie legt Sophie eine poetische Sprache, auch in ihren Gedichten, in den Mund, aber sie darf auch drastisch all ihre Wut in Worten entladen.
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