Marie-Aude Murail: Vielleicht sogar wir alle, Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Fischer Schatzinsel, 356 Seiten, €12,99, 978-3-596-85444-8
„Wie gewöhnlich setzten sie sich zu Tisch, ohne auf Papa zu warten.“
Die vielseitige französische Autorin Marie-Aude Murail erzählt in ihrem neuesten Roman vom Alltagsleben der Familie Doinel. Jeweils aus den Perspektiven des Vaters, der Mutter und der beiden Kinder verfolgt sie die Tagesabläufe und versteht es treffsicher beobachtend, einen sezierenden, wie ironischen Blick auf die Gesellschaft zu werfen.
Die 14-jährige Charlie versinkt zur Zeit in ihren Manga-Bänden und scheint irgendwie das Leben außen vor zu lassen. Ihre beste Freundin interessiert sich auch nur für sie, wenn ihr angebeteter Mitschüler sie links liegen lässt. Aber Charlie lernt einen cleveren, nicht gerade äußerlich traumhaften Jungen kennen und schätzen.
Ihr kleiner Bruder Esteban scheint ein kleiner Pechvogel zu sein. In seinen Tagträumen ist er ein großer Erfinder, ein Spinner würden seine Mitschüler sagen, käme er mit ihnen ins Gespräch. Aber Esteban ist ein Außenseiter, gemobbt, bei Seite geschoben, ausgegrenzt.
Marc Doniel, der Vater, arbeitet unter Stress in einer Speditionsfirma, die gerade an eine holländische Firma verkauft wurde. Als Leiter trifft ihn die volle Wucht der Globalisierung und die Tatsache, dass er wiedermal Leute entlassen muss, dabei arbeitet gerade seine Niederlassung mit Erfolg. Marc Doniel hat sich vom einfachen Fahrer zum Leiter hochgearbeitet und er hat Leute eingestellt, die auch schwere Lebensgeschichten hinter sich haben. Jetzt wird ihm ein junger Schnösel vor die Nase gesetzt und jeder soll, so er den Arbeitsplatz behält, effektiver, sprich unter schlechteren Bedingungen schneller arbeiten. Marc hadert mit der Arbeitssituation und findet vorerst keinen Ausweg. Außerdem spürt er, dass ihm seine Tochter Charlie entgleitet.
Nadine Doniel, die Mutter, verbringt ihre Tage an einer Schule für die Allerkleinsten. Sie arbeitet als Lehrerin für Dreijährige und versucht bei allem Nervenstress, die Kinder so gut wie möglich anzuleiten. Bereits auf den Kleinen und deren Eltern lastet ein seltsamer Druck, denn wenn die Zeugnisse nicht gut ausfallen, denken die Eltern die Kinder seien an den Rand der Gesellschaft geschoben. In ihrem strukturierten Tag bricht, wenn die Kinder mal spielen wollen, gleich Chaos aus. Nadine liebt ihren Beruf, scheint aber eine Grenze des Machbaren erreicht zu haben.
Mit Humor und genauester Beobachtungsgabe für Details lässt Marie-Aude Murail die Tage der Familie Doinel vorüberziehen, in deren Leben irgendwann eine mongolische Jurte die Hauptrolle spielen wird. Aber um das zu erfahren, sollte man an diesem Jugendbuch mit dem nichtssagenden Cover und Titel nicht achtlos vorbeigehen, sondern es lesen.
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