Verena Güntner: Medulla, Dumont Verlag, Köln 2025, 256 Seiten, €24,00, 978-3-7558-1132-9
„Sie fährt mit den Händen über die Stoppeln, wundert sich über den funktionierenden Körper, den sie hat, der Wunden mit einer Kruste überzieht und wieder heilt, Haare und Fingernägel unaufhörlich nachwachsen lässt. Dass sie gerade noch jung ist, denkt sie kurz, dass das vergehen wird, schnell und grausam, und schaut auf die schweren Brüste der alten Frau, die bis zum Bauchnabel hängen.“
Der Sommer ist heiß, es wird viel geduscht und gereinigt. Und somit verbringt Siv, die unverkrampft, kompromisslos und ehrlich durchs Leben geht, sehr viel Zeit mit Hanna im Schwimmbad. Siv ist Anfang vierzig und muss feststellen, dass sie von Jan schwanger ist. Wenn sie, die von ihrer Musik und DJ-Gigs noch nicht leben kann, eines nie wollte, dann Kinder bekommen. In diesem Punkt war sie sich mit Jan, der seinen fünfzigsten Geburtstag in seinem eigenen Restaurant feiert, einig. Der Weg zur obligatorischen Beratung und der daraus folgenden Abtreibung ist für Siv, nachdem sie Jan so fast nebenbei informiert hat, gar kein Gesprächsthema. Doch es knirscht in der sexuell sehr offenen Beziehung, denn Jan akzeptiert Sivs Nein zum Kind nicht.
Auch Leyla, die immer noch ihre alte, kleine Wohnung behalten hat, stellt nach vielen Behandlungen im Kinderwunschzentrum fest, dass sie endlich von David schwanger ist. Doch die einstige Harmonie und Offenheit in der Beziehung kippt. David trauert um seine todkranken Eltern, die sich nie wirklich weder für ihn noch Leyla interessiert haben. Seine kleine Firma geht den Bach runter und er lässt alles einfach laufen. Auch Leyla, die aus dem Iran stammt, und sogar ihren Eltern von der Schwangerschaft erzählt hat, entschließt sich zur Abtreibung nach dem traditionell gemeinsamen Monatsessen ( David hat Lamm gemacht, das fast niemand essen will.), bei dem alle Protagonisten dieses Romans, die sich zum Teil durch die Arbeit kennen, zum Teil befreundet sind, am Tisch sitzen.
Im Präsens nah an den Geschehnissen, fast linear und aus der personalen Perspektive erleben die Lesenden drei Paare und ihren Beziehungsstress in diesem Sommer. Auch Esther und Jacob erwarten ein Kind. Auch hier ist die Lebensgemeinschaft im Ungleichgewicht, denn die herrische, pedantische Esther scheint sich nur für sich zu interessieren. Jacob hingegen, der den ganzen Haushalt erledigt, kann nicht fassen, dass Esther sich kaum auf das Kind freut und ihn als Mann und Partner eigentlich verachtet.
„Er wäre die bessere Wahl für dieses Kind, ist er sich sicher. Er würde es zu seinem Mittelpunkt machen, sich seinen Wünschen und Bedürfnissen bedingungslos unterordnen, sich der Aufgabe hingeben, sich aufgeben für sein Ein, sein Alles.“
Geht es wirklich um die unversehrten Körper und rigorosen Entscheidungen der Frauen gegen Nachwuchs, wie es der Klappentext vermitteln will? Ist die Generation der Mitte Dreißigjährigen bis Vierzigjährigen zwischen Besitztum durch Erbschaft und intellektuelles Prekariat trotz Arbeit diejenige, die am liebsten abtaucht. Angesichts der sinkenden demographischen Zahlen in Bezug auf die Anzahl der Kinder in Deutschland pro Frau könnte man annehmen, dass die Karriere und Freiheit gegen das Muttersein gern eingetauscht werden. Doch ist es egoistisch, wenn Frauen keine Kinder wollen?
Steht nicht eher die auch gesellschaftlich bedingte Fragilität von Beziehungen zwischen Mann und Frau, die gleichberechtigt irgendwie nicht funktionieren, im Mittelpunkt? Ist der ständige Tanz ums Kind und dessen Bedürfnisse, medial ausgeschlachtet, eher abschreckend als belebend?
Dieser Roman stimmt trotz der wunderbar anmutigen Sprache ratlos und tieftraurig, wenn die Handlung den Zeitgeist spiegeln soll. Denn was gänzlich fehlt, ist der angekündigte, abgründige Humor. Vor dieser Generation kann einem eigentlich nur grauen.