Imogen Crimp: Unser wirkliches Leben, Aus dem Englischen von Margarita Ruppel, hanserblau im Carl Hanser Verlag, München 2022, 464 Seiten, €22,00, 978-3-446-27285-9
„Aber Anna, sagte er sanft. Anna, tut mir leid. Ich bin etwas verwirrt. Ich dachte nicht, dass wir einander fragen müssen, ob wir etwas tun dürfen. Ich dachte – na ja -, ich dachte, du hast dein Leben und ich meins. Da entflammte Zorn in mir wie ein Streichholz in der Dunkelheit.“
Das gehört zu Imogen Crimps Stärken, sie findet für entscheidende Momente, Situationen, Gefühle, Menschen und ihren sozialen Status absolut passende sprachliche Bilder. Als die angehende Opernsängerin Anna, die sich im allzu teuren London in einer Bar als Jazzsängerin durchschlägt, den um dreizehn Jahre älteren Banker Max kennenlernt, beginnen beide eine Affäre. Doch aus der unverbindlichen Beziehung wird schnell ohne große Worte etwas Ernsteres. Aus Annas Sicht wird es so beschrieben:
„Ich war locker, unverbindlich, die Art Frau, die er haben wollte. Aber nicht in Wirklichkeit – nein – nicht in Wirklichkeit. Innerlich versuchte ich, mich mit so vielen Haken wie möglich an ihn zu heften wie eine Klette, damit er mich nicht einfach wieder abstreifen konnte.“
Mag es in der Beziehung der beiden vorrangig um Sex gehen, so verunsichert der oft leicht sarkastische Max auch Anna, indem er sich in teure Restaurants einlädt, ihr sogar die Zahnbürste aus seiner Wohnung mit wunderbarem Blick über London hinterher trägt und ihre Berufswahl in Frage stellt, denn gerade im Fach Sopran – Mezzosopran ist die Konkurrenz unter den Sängerinnen enorm hart. Doch Anna hat es geschafft und ist eine der Auserwählten für das Konservatorium in London. Sie kann bei der Sängerin, die sie schon lang bewundert Gesangsstunden nehmen und beide finden sich auch sehr sympathisch. Da Annas Eltern sie weder emotional, noch finanziell, auch nicht in Krisenzeiten, unterstützen, ist Anna völlig allein auf sich gestellt. Laurie, ihre leicht oberflächliche Freundin, die angeblich Schriftstellerin werden will, wohnt mit ihr bei den unsäglich ordinären, neugierigen, wie schlampigen Vermietern.
Anna bewirbt sich um Stipendien, arbeitet viel, um die Ausbildung zu bezahlen, sie geht zu Castings, auch diese fordern Gebühren und sie schafft es zu einem Vorsingen für die Martignuargues Akademie. Allerdings findet dieses in Paris statt. Doch diesen Karrieresprung und nicht mal neue Bewerbungsfotos kann sich die verzweifelte Anna nicht leisten. Sie muss Max um das Geld und die Hotelreservierung bitten, dass dieser nonchalant auf sein Spesenkonto setzen kann. Anna schreibt jede Geldsumme auf, die er ihr zur Verfügung stellt.
Je enger die Beziehung der beiden wird, um so mehr passt sich die junge Frau dem vermeintlichen Geschmack des älteren Mannes an, der eine kindische Angst vor Spinnen hat. Sie verliert den Kontakt zu ihren Mitschülern vom Konservatorium und auch zur Freundin Laurie.
Anna beginnt, Proben für Max zu schwänzen, verliert ihr Ziel aus den Augen und wird durch stimmliche Probleme ihre Rolle der Musetta in „La Boheme“ aufgeben müssen. Naheliegend, die Anspielung auf Puccinis Oper und die Parallele zu Annas wirklichem Leben. Dabei weiß sie, dass Max noch verheiratet ist, seine Frau angeblich in New York lebt, wo er auch oft hinreist, und sein Haus in Oxford für Anna tabu ist.
Als Anna dann Vincent, einen älteren Freund von Max kennenlernt, ahnt sie, dass Max noch nie erzählt hat, wer Anna ist oder was sie macht. Denn Vincent fördert SängerInnen, er kennt Leute, die junge Sänger in Festivals protegieren. Vincent fragt sogar Anna, ob sie die Oper „La Boheme“, die sie auch noch zusammen auf der Bühne sehen, überhaupt kennen würde.
Imogen Crimp hat auch ein anschauliches Bild für die sorglose Ehefrau von Vincent:
„Eine dieser Frauen, die der Wohlstand für immer konservieren würde wie eine Salzzitrone im Glas.“
Junge talentierte Frau trifft auf älteren, finanziell gut situierten Mann, doch so einfach ist die Handlung nicht, denn Anna ist eine ambivalente Figur, genau so wie Max ( beide ohne Nachnamen ). Sie weiß, dass sie nicht aufgeben darf, doch sie weiß auch, dass sie es nicht mit seinem Geld schaffen will.
Psychologisch fein beobachtet verfolgt die englische Autorin in ihrem Debüt den schwierigen Weg einer Sängerin, die, alles bleibt offen, hoffentlich nicht aufgibt.