Karin Ernst: Überflieger, Droemer Verlag, München 2019, 440 Seiten, €19,99, 978-3-426-28195-6
„Jetzt wusste sie, dass alles immer so bleiben würde, dass sie in der Vergangenheit alles falsch gemacht hatte und dass es jetzt viel zu spät war, um noch etwas daran zu ändern.“
Attraktiv, intelligent, voller Selbstbewusstsein und auch Selbstzufriedenheit präsentierte sich das Ehepaar Claire und Niko von Koppenstein. Überaus begabt, frühreif, gutaussehend und kreativ, so würde Claire ihre Kinder, Cordelia und Raffael, genannt Raffi, beschreiben. Mit dieser Portion Arroganz hob Claire, Nico folgt ihr in allem, sich und ihre Familie über den Rest der Welt. Als die Familie aus den USA nach München zurückkehrte, lief alles wie am Schnürchen. Sie konnten im geerbten Haus der Großmutter in München wohnen, sie erhielt eine Professur, er konnte im IT-Bereich freiberuflich Geld scheffeln und Raffi sollte mit seinen fünf Jahren eingeschult werden. Da er Englisch und Deutsch bereits lesen konnte, auch rechnen, war sein Platz, keine Frage, in der Schule. Für die elfjährige Cordelia fand die Familie ebenfalls schnell eine gute Schule.
Alle Eigenarten der einzelnen Figuren erzählt Karin Ernst aus dem Blickwinkel der anderen oder sie lässt sie selbst über sich berichten. So findet ein pausenloser Perspektivenwechsel statt, der der Handlung Tempo verleiht.
Mit der Einschulung von Raffi beginnt ein Leidensweg, und damit hätte die erfolgsverwöhnte und extrem ehrgeizige Claire, die für ihre Kinder nur das Beste wünscht, niemals im Leben gerechnet. Hätte ihr jemand gesagt, dass sie am Ende in den Klauen des Jugendamtes landen würde, Niko in Untersuchungshaft und Raffi in einer Wohngruppe, sie hätte nur gelacht. Auch Cordelia wird den Halt verlieren, das Klavierspiel aufgeben und in den Leistungen rapide absinken. Doch wer ist schuldig an der ganzen Misere? Raffi sicher nicht, denn er hat unter den Querelen zwischen den Erwachsenen am meisten zu leiden. Oder ist es das Schulsystem, dass mit einem Kind, das bereits Spaß am Lernen hat, nicht klarkommt? Wie kann sich ein Junge, der bereits mit fünf Jahren die englische Ausgabe von „Harry Potter“ liest, in einer ersten Klasse, die mit dem Alphabet beginnt, wohlfühlen? Und wie kann es sein, das er keine der geforderten, eigentlich extrem einfachen Aufgaben erledigen kann? Auf jeden Fall sprüt Raffi nur so vor Einfälle, wenn er zu Hause ist, muss er in die Schule, wehrt er sich mit Händen und Füßen, denn nichts trifft ein, was Claire so erhofft hatte. Er glänzt nicht mit besonderen Leistungen, sondern versagt auf ganzer Strecke. Schaut man von außen und völlig unbeteiligt auf die „Königskinder“ der Koppensteins, dann sieht man zwei verwöhnte, sture, fordernde, völlig egoistische Kinder, deren Wünsche den Eltern Befehl sind und die Kinder wissen, dass bei der wohl durchdachten Erziehung der Eltern keine Konsequenzen für sie entstehen. Es wird geredet, viel geredet.
Wagt Niko mal den Einwand, dass auch Kinder sich in eine Gruppe einfügen müssen und Dinge erledigen, die sie nicht mögen, erntet er die Missachtung seiner Frau. Zu allem Ärger können sie nach einem Intelligenztest nicht mal punkten, denn laut Ergebnis ist Raffi nicht hochbegabt.
Claire wird von ihrem Thron herabsteigen, denn in der Konfrontation mit amtlichen Behörden, Schuldirektoren und gleichgültigen wie mittelmäßigen Lehrern, die ihre Schüler als „Hanseln“ bezeichnen und die Schulpflicht einklagen, indem die Polizei eingeschaltet wird, kann sie trotz Charme und Eloquenz nur verlieren. Haben die von Koppensteins einfach nie genau hingesehen, wenn es um ihre Kinder ging? Waren sie mit ihrer eigenen Arbeit zu eingespannt? Sind sie wirklich laut Jugendamt für Raffis sogenannte „Schulunlust“ verantwortlich?
Als sie endlich die richtige Schule für ihren Sohn finden, eine Montessori – Schule sollte man als Leser aufatmen, denn die Tortur fürs Kind könnte ja nun ein Ende haben. Aber weit gefehlt, denn kaum ist Raffi angekommen, schließt die Schule auch schon, u.a. wegen fachlicher Inkompetenz.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, die richtige Schule und Spaß am Lernen scheinen, und da spricht die Rezensentin sicher nicht nur aus eigener Erfahrung, einfach nicht zusammenzupassen, ob in München, Berlin oder Hamburg. Geht es im Roman um Schuldzuweisungen an die Eltern, die in Raffi einen kleinen Einstein sehen, der gar nicht vorhanden ist? Geht es um ein Schulsystem, das nicht in der Lage ist, „besonderen“ Kindern einen Platz einzuräumen und dabei mit Empathie und Einfühlungsvermögen auf Eltern wie Kinder einzugehen?
Manchmal mit Ironie, dann wieder mit ehrlicher Anteilnahme, sprachlich anspruchsvoll und bildreich erzählt Karin Ernst in ihrem Debüt von Menschen, die vieles wollen und auf dem Rücken der Schwächsten leider kläglich scheitern.
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