Delphine de Vigan: Tage ohne Hunger, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Dumont Verlag, Köln 2017, 169 Seiten, €20,00, 978-3-8321-9837-4
„Ja, sie hatte übergroße, von dunklen Ringen umrahmte Augen, Streichholzärmchen und eine so gespannte Haut, dass sie nicht mehr lächeln konnte. Ja, stimmt, sie konnte nicht mehr hören und kaum noch sprechen. Sie torkelte, fiel auf der Straße hin, konnte nicht einmal mehr die Knie beugen. … Ja, aber sie war seine Tochter.“
Laure ist neunzehn Jahre alt und kurz davor, sich zu Tode zu hungern. Sie ist ein Meter fünfundsiebzig groß und wiegt kaum sechsunddreißig Kilo, ihr Magen hat die Größe eines kleinen Babys. Nur der Aufenthalt im Krankenhaus, den sie selbst wirklich wollen muss, eine Magensonde und langsames Essen unter Aufsicht können sie retten. Wie kann es sein, dass Mädchen das Essen vergessen? Wie kann es sein, dass das Vermeiden der Nahrung zu einer Sucht wird? Alles hat seine Ursachen, jeder ahnt, das etwas nicht stimmt im Leben dieser jungen Frauen und auch Männer.
Der Wunsch, die Kontrolle zu behalten, hat auch Laure angetrieben. Sie schreibt im Krankenhaus alles auf, was ihr so durch den Kopf geht. Sie muss schreiben, wenn der Vater sie besucht, die wortkarge Mutter oder die Schwester. Sie spürt das Grauen, dass sie und ihr Körper hervorruft, wenn Leute sie ansehen. Alles hat nicht mit einer Diät kurz vor dem Sommer angefangen, um den Babyspeck für einen gut sitzenden Bikini loszuwerden. Bei Laure war es ein schleichender Prozess. Zuerst wurde der Zucker weggelassen, dann die Fette und dann das Essen. Seltsamerweise stellte sich für Laure ein seltsam gutes Gefühl ein, beim Essen endlich die Oberhoheit zu haben. Mit dem Spott der Leute konnte sie umgehen, mit dem Abscheu der Familie weniger.
nUnaufgeregt erinnert sich die junge Frau an ihre Kindheit, die durch eine labile Mutter geprägt wurde, deren Geist krank war. Als die Schwestern nicht mehr bei der Mutter leben können, nimmt der Vater sie auf. Er trinkt, er bemitleidet sich selbst, er quält die Mädchen mit seinen ich-bezogenen Tiraden, mit seinem Geschimpfe und seiner Gewalttätigkeit. Als sich Laure dem Vaterhaus entzieht, hat sie ein schlechtes Gewissen, denn die Schwester kann nicht fliehen.
„Sie reicht nie, die Liebe, die man ihm schenkt. Ihr Vater leidet darunter, dass er nicht richtig geliebt wird, er leidet an der Leere, die er, langsam und unwillkürlich, rings um sich schafft. … Er zerstört alles, alle Bindungen, alle Gefühle.“
Nach und nach lernt der Leser die Klinikabläufe kennen, den „Klub der Gerippe“, weitere Patientinnen, die am liebsten bei Laure Dallas-Serien sehen und ihren Kummer abladen. Und er erlebt die Gespräche mit dem Arzt, den Laure mal innig liebt und dann wieder zum Teufel jagen möchte. Und doch wird sie sich öffnen und so über den Berg kommen.
Zu Beginn erfährt der Leser, dass Laure nicht untergehen wird und das hilft beim Lesen. Genaue zeitliche Verortungen lassen ahnen, dass die Autorin vielleicht selbst Erfahrungen mit der Magersucht, der Anorexie, machen musste.
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