Susanne Tägder: Die Farbe des Schattens, Tropen Verlag, Stuttgart 2025, 336 Seiten, €17,00, 978-3-608-50273-2

„Hier hat er sich seit Tag eins der Suche nach Matti Beck im Johnson’schen Stil alles aufgeschrieben, was ihm auf dem Mönkeberg auffiel. Das steif gefrorene Hemd auf der Wäscheleine, der halbe Kopf hinter der Balkonbrüstung, der Fußweg zum Brauereigelände, Domestosflaschen und volle Mülleimer, die kalten Blicke der Kahlgeschorenen vor dem Jugendclub. Er hat Seite um Seite damit gefüllt. … Für sich genommen unwichtige Informationen, die sie nicht weiterbringen, bis eben doch eine davon plötzlich ein Bild vervollständigt. Denn jetzt fällt es ihm ein.“

Hauptkommissar Arno Groth sucht im Januar des Jahres 1992 in Mecklenburg – Vorpommern, in Wechtershagen nach dem elfjährigen Matthias Beck, kurz Matti genannt. Ein unscheinbarer Junge, der gern zeichnet, seine Kaninchen füttert, Freunde hat und in der Familie irgendwie so mitläuft. Das Leben in der Wendezeit ist für viele Familien nicht leicht. Mattis Vater ist als Maschinist arbeitslos und die Mutter ernährt die Familie als Krankenschwester. Sie verhätschelt ihren ältesten Sohn aus erster Ehe, sorgt sich um den fünfjährigen Svenni. Und Matti, so beobachten es auch die Nachbarn, ist auf sich gestellt, muss schnell selbstständig werden. So soll er auch ein Brot am Abend holen und kommt nie wieder nach Hause.
Um es vorwegzunehmen, dieser Kriminalroman verschweigt nichts, denn die Autorin schildert die Tat und übergeht nie den tiefen Schmerz der Angehörigen, die bald erfahren müssen, dass Matti gewaltsam ums Leben gekommen ist. Und noch schlimmer, in der Vergangenheit, und das ist ein authentischer Fall aus der DDR – Vergangenheit, häuften sich Morde an Kindern in den 1980er Jahren im Norden. Die Ermittler setzen alle Hebel in Bewegung, die Aufklärung voranzutreiben. Gerade Groth, der selbst seine Tochter Saskia durch einen Unfall verloren hat, hofft bis zum Ende, dass er den Jungen findet. Und dann stößt ein Reporter Groth auf einen ungelösten Fall, wo ein weiteres Kind 1986 in der nahen Umgebung so wie Matti ums Leben kam.
Susanne Tägder schildert atmosphärisch genau, wie teilweise lethargisch sich die Menschen in der nun neuen Gesellschaft bewegten und wie die westdeutschen, auch sehr jungen Vorgesetzten, z.B. der Staatsanwalt aus Kiel so tun, als hätten die ostdeutschen Ermittler keine Ahnung von ihrem Job. Arno Groth spürt diesen unsensiblen, herablassenden wie respektlosen Umgang am eigenen Leib mit den Kollegen, zu denen aus Unwissenheit auch er dazugezählt wird. Dabei hat Groth 1960 die DDR Richtung Hamburg verlassen, um dort Karriere zu machen und ist nun wieder in die Heimat zurückgekehrt. Seine Liebe zur Literatur und insbesondere den Autor Uwe Johnson machen ihn besonders sympathisch und seine Hingabe für diesen so komplizierten Fall, für den er sogar seinen ehemaligen Kollegen Gerstacker, der seine kurzzeitige Stasi – Tätigkeit verschwiegen hatte und nun aus dem Dienst entlassen wurde, um Mithilfe bittet. In all den Befragungen zeigen sich Überforderungen in den Familien, gebrochene Lebensläufe, Einflüsse Rechtsradikaler auf allein gelassene Kinder und Jugendliche und die Einsamkeit der Verlierer der Wende. Als Svenni, der kleine Bruder von Matti, dann Groth etwas Wichtiges zeigt, nimmt der Fall, an dem die Einsatzgruppe „Nachtschatten“ arbeitet, endlich Fahrt auf.
Susanne Tägder hat einen ausgeklügelten, feinen Spannungsroman, dessen Sog man sich kaum entziehen kann, geschrieben. Sprachlich, aber auch dramaturgisch elegant, zieht sie uns Leserinnen und Leser immer tiefer hinein in eine dunkle Geschichte, an deren Ende es keine Erlösung geben wird.
Dieser Roman ragt eindeutig als Highlight aus der Masse der Kriminalliteratur heraus!