Bettina Obrecht: Streichholzburgen, Bloomsbury Verlag, Berlin 2012, 111 Seiten, €12,90, 978-3-8270-5507-1

„Wenn Opa das sehen würde, müsste er zugeben, dass Lisa nicht eine ist, die gar nichts kann, sondern eine, die eine hölzerne Begabung fürs Bauen mit Streichhölzern hat.“

Dem magischen Alter längst entwachsen, kann Jan trotzdem mit seinem Papagei Malcolm, mit dem Kühlschrank, dem eigentlich nur kalt ist und seinem Spielzeug sprechen. Und, wie seltsam, er erhält auch Antworten. Es ist gar nicht lang her, da dachte der Junge, dass alle Menschen diese Art der Unterhaltung führen könnten.

Nur mit seiner Schwester Lisa, die zwei Jahre älter ist als er, kann Jan nicht kommunizieren. Sie lebt in ihrer eigenen undurchsichtigen Welt, redet nicht, zeigt keine verbindlichen Emotionen und schreit peinlich laut in aller Öffentlichkeit, wenn etwas nicht nach ihren Gewohnheiten läuft. Da Lisa die Comics mit Snoopy so liebt, glaubt der Bruder, dass sie, die ihm so einsam erscheint, einen Hund möchte. Oder ist das eher Jans eigener Wunsch? Mit der Familie und der autistischen Tochter ist die Mutter von Jan eindeutig überfordert. Sie hat ihren Beruf aufgegeben. Der Junge spürt, dass seine Mutter unglücklich ist und er befürchtet, dass sie die Familie verlassen könnte. Wenn Jan zu den Großeltern ans Meer reist, fühlt er sich einerseits schuldig, denn Lisa darf nie mit und andererseits liebt er es, wenn sich mal alles um ihr dreht.

Als Jan den Großeltern und der Mutter von Lisas angeblichem Hundewunsch erzählt, erntet er nur Unverständnis. Jan schaut dem Großvater gern zu, wenn er sich in den Keller zurückzieht und seine filigranen Bauten aus Streichhölzern entwickelt, um sie dann geschickt zusammenzukleben. Als der Opa seinem Enkel einen Streichholzvorrat schenkt, gibt ihn dieser an Lisa weiter und staunt, was sie mit ihrer Fingerfertigkeit anstellen kann.

Innerfamiliär wurden inzwischen Entscheidungen getroffen, die Jan und seine Hundeplanung in weite Ferne rücken lassen. Lisa soll künftig in einem Heim für Behinderte leben, denn die Mutter, die sich schuldbeladen diese Entscheidung nicht leicht gemacht hat, kann den Alltag mit dem schwierigen Kind nicht mehr bewältigen.
Jan ist außer sich. Wie können die Eltern Lisa einfach so abschieben?

Aus der fein beobachteten, unsentimentalen Sicht eines Zehnjährigen erzählt Bettina Obrecht von einer Familie, deren Alltag aus dem Rahmen fällt. Die Autorin malt keine heile Kulisse vor einer verworrenen Realität. Mit dem Einbruch des Wunderbaren in die Welt des Wirklichen bietet die Autorin Jan, der nicht so recht weiß, welche Beziehung er eigentlich zu seiner Schwester hat, kleine Fluchtpunkte und verdeutlicht seine Lebenswirklichkeit. Jan hat sich seine eigene, hoffnungsvolle Welt geschaffen, die ihm hilft, mit vielem leichter klarzukommen.

Ein Hund hätte da noch viel Platz.