John Irving: Straße der Wunder, Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog, Diogenes Verlag, Zürich 2016, 784 Seiten, €26,00, 978-3-257-06966-2

„ Doch trotz seiner Müdigkeit war Juan Diego dankbar dafür, überhaupt geträumt zu haben – wenn auch zusammenhanglos. Am selbstbewusstesten und mit dem sicheren Gefühl zu wissen, wer er war, lebte er nun in der Vergangenheit – nicht nur als Schriftsteller.“

Aufs Neue kreist der neue Roman von John Irving um das Leben eines Schriftstellers. Juan Diego zieht sich 2010 mit seinen 54 Jahren aus dem Dozentendasein in New York zurück und reist auf die Philippinen. Er unternimmt diese Tour für einen amerikanischen Freund, der lang tot ist. Auf dieser Reise begegnet ihm ein seltsames, ziemlich sexorientiertes Mutter-Tochter-Duo. Sie regeln im Handumdrehen Diegos Angelegenheiten, bei denen er immer wieder hektisch nach seinen Pillen greifen muss, um soviel Frauenpower auch zu genießen. Gleich Engeln greifen sie in sein Leben ein und verschwinden auch wieder klanglos.

Während Juan Diego unterwegs ist, verfolgen ihn in Tagträumen und des Nachts Erinnerungen an seine Kindheit. Als Juan Diego 14 Jahre alt ist, nimmt Jesuiten-Pater Pepe sich des Jungen an. Juan verbringt die Zeit mit seiner Schwester Lupe auf einer mexikanischen Mülldeponie in Oaxaca. Sie sortieren den Müll nach Glas, Aluminium und Kupfer. Aber Juan sucht für sich die angebrannten Bücher heraus und liest sie. Die Lesefähigkeit hat er sich selbst beigebracht, genauso wie das Englisch, das er spricht. Und er übersetzt die eigenartige Sprache seiner Schwester Lupe, die hellsehen kann. Die Mutter der Kinder arbeitet als Putzfrau im Jesuitenkloster und nebenher auch noch als Prostituierte. Juan lebt immer in Zwischenwelten. Er weiß nicht genau, ist er Amerikaner oder Mexikaner, ist die Jungfrau Maria die wahre oder die Jungfrau von Guadalupe. Und Juan erinnert sich an seinen Unfall, seitdem er nur noch hinkend laufen kann.

In schnellen Dialogen und Rückblenden entsteht ein Kaleidoskop aus Gedankenfetzen, realen Geschichten, Szenen und Figuren, die Irving Kenner irgendwie vertraut vorkommen, ob in der Zirkuswelt oder der imaginären Traumwelt der Hauptfigur. Die Tatsache, das die Geschwister nicht auf dem Müllberg ihr Leben verbringen und gnadenlos abstürzen, verdanken sie Pepe und dem „Papageienmann“, dem Missionar und Lehrer Edward Bonshaw.

Etappen seines Lebens laufen vor Juan Diegos innerem Auge ab und er erinnert sich schmerzlich an den Tod der Schwester, den Moment des Unfalls, an Lesereisen und unbeholfene Fans und vor allem fließt alles irgendwie ineinander und braucht eine Weile, ehe man alles entschlüsseln kann.

Als Eduard Bonshaw sich in die Transvestiten-Prostituierte Flor verliebt, verändert sich auch Juan Diegos Leben, denn beide nehmen ihn mit in die USA. Seine Karriere als Schriftsteller kann beginnen.

John Irving sagte in einem Interview über seinen Roman: „Es geht in meinem Roman um den Glauben – nicht an die Kirche, sondern an das Wundersame. Ich habe während der Recherchen zu dem Roman viel Zeit in beeindruckenden Kirchen verbracht. Irgendjemand ist immer in einer Kirche, einer Moschee oder einer Synagoge. Viele Menschen kommen aber nicht dorthin, um vom Priester, Rabbi oder Mullah beraten zu werden. Überzeugte Gläubige sind für mich genauso unbequem wie überzeugte Atheisten. Meiner Kenntnis nach ist noch keiner von beiden je gestorben und danach zurückgekehrt, um uns erzählen zu können, wie es nach dem Tod weitergeht.“

Und das macht die Faszination von Irvings sprachgewaltigen, magischen, detailverliebten und verrückten Welten aus, sie scheinen bekannt zu sein und überraschen immer wieder aufs Neue.