Elisabeth Herrmann: Stimme der Toten, TB, Goldmann Verlag, München 2019, 540 Seiten, €10,00, 978-3-442-48839-1
„Sie sollte zur Polizei gehen, aber was dann? Denen erzählen, dass sie die CHL hacken sollte? Zusammen mit einem verhinderten Mossad-Agenten, der in in seinem Hotelzimmer beim Liebesspiel erschossen worden war, und einem Waffenhändler vom russischen Geheimdienst? Der es wusste, der alles wusste. Der sogar ihren richtigen Namen wusste.“
Nur eine Beobachtung, die jedoch die Polizei und alle möglichen anderen Geheimdienste wachrüttelt, verwickelt die Gebäudereinigungskraft Judith Kepler in einen Deal ungeahnten Ausmaßes. Als sie den Tatort in der CHL, einer Liechtensteiner Bank für Wertpapiere, in der Nähe vom S-Bahnhof Friedrichstraße sauber machen soll, bemerkt sie, dass Blut in der nahegelegenen Toilette nicht weggewischt wurde. Offenbar war jemand nach dem sogenannten Selbstmord bei dem Bankangestellten Francois Merteuille.
Der Leser kennt seit dem ersten Band „Zeugin der Toten“ ( verfilmt mit Anna Loos in der Hauptrolle) Judith Keplers tragische Lebensgeschichte. Auch in diesem Thriller spielt die Biografie der Hauptfigur eine maßgebende Rolle. Judith, die eigentlich Christina Sonnenberg heißt, kam mit fünf Jahren in das Kinderheim „Juri Gagarin“ auf Rügen. „Nuttenkind“ oder „Asoziale“ haben sie die anderen genannt, sie wurde geschlagen und gedemütigt. Als erwachsene Frau und mit der Wende gelangten endlich Informationen über ihre wahre Herkunft ans Licht. Ihre Eltern waren treue Stasi – Funktionäre, die sich mit brisantem Material in den 1980er Jahren in den Westen absetzen wollten. Als die Flucht vereitelt wurde, starben beide. Zurück blieb nur das Kind. So die Legende, die, und das ist der Knaller in dieser Fortsetzung, nicht stimmt.
In Rückblenden und mit Zusatzinformationen für den Leser, er weiß, dass der tote Banker erpressbar war, umkreist die Berliner Autorin in ihrem Thriller nicht nur Judith Keplers bisheriges ziemlich trauriges Leben. Auch ihr „Beschützer“ vom BND, Quirin Kaiserley, kommt wieder zum Einsatz.
Als der Chefbanker, Adolf Harras, schnell eingeflogen, vor Ort ist, beeindruckt Judith Kepler ihn mit ihrem Auftreten. Er verfügt, dass „Dombrowski Facility Management“, die Firma, für die Judith arbeitet, nun einen neuen Reinigungsauftrag erhält und im High-Security Bereich der Bank den Schmutz unter Judiths Anleitung beseitigen darf. Bei der Überprüfung von Judith Keplers Biografie wird die Bank stutzig, aber auch der Geheimdienst, der per Hackerangriff mit Merteuilles Hilfe an die Daten der Bank gelangen wollte. Sie setzen den ehemaligen Stasi-Mann Bastide Larcan, der nun für die Russen arbeiten muss, auf Judith an.
Judith, die in einem Hochhaus in Lichtenberg wohnt, wird auf ein ziemlich dickes Mädchen aufmerksam. Tabea lebt bei ihrer offenbar alkoholkranken Mutter, die sie zeitweise aussperrt. Als Judith sie auf einer Bank an der Bushaltestelle trifft, ist das Kind schon stundenlang in der Kälte mit dünnen Sachen und Schuhen herumgeirrt. Judith muss in der Wohnung von Tabea feststellen, dass die Mutter elendig verstorben ist. Tabea kommt zu ihrem Vater, der in einem Dorf in Mecklenburg lebt, aber kaum Kontakt zum Kind hatte. Als Judith vor Larcan und seinen Forderungen flieht, besucht sie Tabea. Aber sie muss feststellen, dass die Neunjährige in keiner sicheren Umgebung gelandet ist, sondern bei sogenannten Reichsbürgern. Brav plappert sie nationalsozialistische Hetztiraden nach und Judith weiß, sie muss schnell verschwinden und dem Kind erneut helfen. Doch dazu benötigt sie Geld, was dazu führt, dass sie sich auf den gefährlichen Deal den Larcan ihr angeboten hat, eingeht. Außerdem will sie wissen, warum er ihren wirklichen Vornamen kennt. Schnell erkennt sie auch, der kalte Krieg längst wieder ausgebrochen ist. Ziel der Hackerangriffe soll nicht nur die Manipulation von Daten sein, sondern der eindeutige Angriff auf Menschen, die man denunzieren und deren Reputation vernichten.
„Eine kleine Schweinerei unter Feinden. Aber die Russen verfolgten mittlerweile andere Ziele: die Eliminierung der Demokratie in Europa.“
Mit einem reichen Personal, das fähig, aber auch fehlbar ist, aus allen möglichen Geheimdiensten, ob BND, alten Stasi-Größen, CIA oder russischem Auslandsnachrichtendienst bevölkert die Berliner Autorin ihre Handlung und nach und nach muss sich der Leser in der Informationsfülle über die verschiedensten Personen zurechtfinden. Zu dem Bankendeal, als dessen reales Vorbild die so genannte Clearstream-Affäre aus den Jahren 2004 bis 2006 herhalten muss, gehört die Geschichte um das Nazi-Dorf in Mecklenburg-Vorpommern und natürlich Judith Keplers persönliche Geschichte, die in all ihren Details immer noch nicht wirklich aufgedeckt wurde.
Viele offene Enden sollten bald einen dritten Band folgen lassen, dessen Handlung genauso gut recherchiert ist und der sich so spannend liest wie der zweite.
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