Inge Barth-Grözinger: Stachelbeerjahre, Thienemann Verlag, Stuttgart 2011, 350 Seiten, €16,90, 978-3-522-20081-3
„Irgendwann muss ich keine Stachelbeermarmelade mehr essen und irgendwann gehöre ich zu jemandem, der mich lieb hat.“\r\n
Marianne Holzer ist acht Jahre alt als sie erfährt, dass sie ein so genanntes „Franzosenkind“ ist. Aufgefallen ist ihr schon, dass die herrische Großmutter, die Alte, wie sie sie nennt, ihre ältere Schwester Sieglinde bevorzugt.
Die Mutter arbeitet in der Fabrik und nimmt sich wenig Zeit für die Kinder. Aber niemand in der Familie hat dem Mädchen die bittere Wahrheit gesagt. Alle blinde Wut konzentriert die Alte in ihrer billigen Kittelschürze auf Marianne und kann nicht verwinden, dass ihr einziger Sohn 1945 in Berlin gefallen ist. Die Schwiegertochter duldet sie nur in ihrem Haus, damit ihr Enkelkind Sieglinde bei ihr lebt. Doch Marianne und Sieglinde verstehen sich gut und Marianne liebt ihren Großvater Gottfried über alles. Seltsam unübersichtlich empfindet Marianne das Leben in dem kleinen Ort Grunbach im Schwarzwald.
Es sind die 50er Jahre, in denen die Handlung einsetzt. Der Leser begleitet Marianne und ihre Familie bis zum Jahr 1962.
Das Mädchen lernt sehr gern und liebt Bücher im Gegensatz zu Sieglinde und sie interessiert sich für Politik, was dem Großvater gefällt. Schäbig ist die Einrichtung bei den Holzers und arbeitsreich der Alltag der Kinder; das Beerenpflücken kein Vergnügen, sondern jedes Jahr aufs Neue eine Qual. Stachelbeeren sind Marianne verhasst. Sie stehen als Metapher für die schmerzvolle Zeit der Kindheit, in der das Mädchen still halten muss. Marianne hofft auf eine bessere Zukunft und dass sie aufs Gymnasium gehen könnte. Nur den Überredungskünsten eines Lehrers verdankt sie den Wechsel. Aber immer schwebt die Angst über ihr, dass die Mutter es sich doch anders überlegen könnte.
nEs sind die Träume, Hoffnungen und tiefen Enttäuschungen der Frauen, die sich durch den Roman ziehen und die abweisende Haltung der Dorfbewohner gegen Übersiedler, Gastarbeiter und alles Fremde. Sieglinde, die für Schauspieler im Kino schwärmt, wartet auf ihren Prinzen. Die Mutter, deren Ruf im Ort bereits angeknackst ist, sucht verzweifelt eine gute Partie und Marianne will studieren, um endlich den Ort verlassen zu können. Als die Alte dann ein Zimmer vermietet, steht Enzo vor der Tür, der Italiener, einer der ersten Gastarbeiter, der allen bis hin zur Alten den Kopf verdreht.
Sozial- und gesellschaftsgeschichtlich fundiert beschreibt Inge Barth-Grötzinger in einer konfliktreichen, wie spannenden Handlung anhand einer Familie die Zeit nach dem Krieg, den alle so schnell vergessen wollen. Der erste Fernseher ist da, die Flüchtlinge aus Schlesien ziehen in neue Häuser ein, das Kino mit seinen Heimatfilmen entführt in eine Traumwelt und die letzten Gefangenen kehren aus Russland zurück.
In einer Rahmenhandlung und eingeschobenen Reflexionen, die immer wieder den Lauf der Erzählung unterbrechen, wird deutlich, dass 1962 in der Familie Holzer ein Verbrechen geschehen ist. Durch Enzos Anwesenheit werden alle Gefühle durcheinandergewürfelt und die Handlung eskaliert dramatisch.
Inge Barth-Grötzinger hat atmosphärisch dicht einen solide geschriebenen, sehr unterhaltsamen Roman mit vielen zeitgeschichtlichen Beobachtungen vorgelegt. Durch Mariannes Erlebnisse und Beobachtungen wird die jüngste Vergangenheit für den jungen Leser lebendig und verständlich.
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