Sophie Hardach: Unser geteilter Sommer, Aus dem Englischen von Ulrike Sterblich, List Verlag, Berlin 2022, 364 Seiten, €22,99, 987-3-471-36047-7
„Wie sollte ich jemals Heiko finden, wenn ich nicht mal unsere alte Straße finden konnte? Aber ich weigerte mich, auf Englisch zu fragen. Jahre hatte ich damit verbracht, mich in London an die Engländer anzupassen, jetzt wollte ich mich nicht auch noch in Berlin an sie anpassen.“
Ella Valentin läuft 2010 durch den Prenzlauer Berg und jeden, den sie nach ihrer alten Straße, die Dunckerstraße, fragt, antwortet ihr auf Englisch. Nun ist sie aus London nach Berlin zurückgekehrt und irgendwie ist alles fremd. Ein Jahr zuvor ist ihre Mutter Regine gestorben und nun hofft Ella, auch wenn die Mutter ihr vehement abgeraten hat, ihren jüngeren Bruder Heiko aufzuspüren.
In Zeitsprüngen setzt Sophie Hardach im Verlaufe der Handlung ein Bild von der Familie Valentin aus der Ich-Perspektive von Ella zusammen. Ursprünglich stammt die einunddreißigjährige Ella aus der DDR, dem untergegangenen Land, dass doch nach dem Ende des 2. Weltkrieges und Gründung 1949 von vielen Menschen als die hoffnungsvolle Zukunft angesehen wurde. Auch Ellas Oma Trude, die im KZ Buchwald gefangen gehalten wurde, war dieser Meinung. Dass vieles nicht so eingetreten ist, wie sie es sich als einstige Dienstmagd erträumt hatte, musste ihre Tochter Regine erfahren. Wenn Ella das Trigger-Tagebuch der Mutter mit all ihren Ängsten durchblättert, dann wird deutlich, was Regine in den Gefängnissen in Hohenschönhausen und Hoheneck ertragen musste. Regine und ihr Mann Jochen wollten frei sein und frei leben. Sie als Dozentin für Kunstgeschichte und er als Professor ebenfalls für Kunstgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin hatten sicher kein schlechtes Leben in der DDR, zumal sie auch beruflich reisen durften. Gerade durch die Kontakte zur Kunstszene in der DDR erwuchsen jedoch neue Sehnsüchte. Durch die Begegnung mit einem Maler, der ebenfalls die DDR illegal verlassen hatte, glaubten die Valentins einen sicheren Weg über Ungarn gefunden zu haben.
Ella versucht nun durch ihre Recherchen in der ehemaligen Stasi – Zentrale in Berlin-Lichtenberg und mit Hilfe von Aaron, der die Akte der Mutter aus vielen Schnipseln wieder zusammensetzt, zu erkunden, was die Mutter ihr und auch ihrem Bruder Tobi verschwiegen hat. Hatte sie doch nach ihrem dritten Kind vergeblich gesucht, was sich allerdings als Lüge entpuppt. Der zweijährige Heiko wurde der Familie nach dem missglückten Fluchtversuch, der Vater wurde von einem Grenzsoldaten erschossen, weggenommen. Nach qualvollen Verhören und im Frauengefängnis Hoheneck hatte die Mutter dann wohl einer Adoption zugestimmt, die auch nach der Wende rechtsgültig war. „Unser geteilter Sommer“ spielt an auf den frühen Roman von Christa Wolf, denn auch sie musste neben vielen Akten über sich auch ihre eigene Täterakte zur Kenntnis nehmen und dafür mehr als Kritik einstecken.
Ella wird nun die Menschen aufspüren, die Kontakt mit ihrer Mutter in ihrer Zeit in den Gefängnissen hatte und sie wird sogar mit dem Mann sprechen, der sie in Hohenschönhausen stundenlang verhört und traumatisiert hat. Er lebt friedlich in seinem kleinen Häuschen in Marzahn.
Atmosphärisch dicht schreibt Sophie Hardach, dank guter Recherchen, über das Alltagsleben in Ostberlin und den Geschehnissen gut zwanzig Jahre nach der Wende mit allen Widersprüchlichkeiten. Nichts von dem, was die Autorin erzählt, die in London lebt, ist neu. Oft wurden Schicksale von Dissidenten, denen man die Kinder weggenommen hat oder als Druckmittel benutzt hat, beschrieben. Eines der besten Bücher über dieses Thema, weil auch autobiografisch, ist der Roman von Klaus Kordon „Krokodil im Nacken“.
Und doch bewegt jeden mitfühlenden Lesenden nach wie vor die Willenskraft die Menschen aufgebracht haben, um sich und ihre Familie aus der Umklammerung und Bevormundung der DDR zu lösen, um eigenständig für sich zu entscheiden, wie man leben möchte.
Keine Frage, ein bewegender Roman mit, das darf verraten werden, ungewöhnlichem Ende.